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Vom Kriege - title image

Carl von Clausewitz

[Table of Contents]

This website presents a complete German edition of Carl von Clausewitz's classic work on the theory of war, Vom Kriege. It has been posted to The Clausewitz Homepage by Clausewitz.com. For background on Clausewitz, visit our FAQs page.

Drittes Buch:
Von der Strategie überhaupt

Erstes Kapitel: Strategie

Der Begriff ist festgestellt im zweiten Kapitel des zweiten Buches. Sie ist der Gebrauch des Gefechts zum Zweck des Krieges. Sie hat es eigentlich nur mit dem Gefecht zu tun, aber ihre Theorie muß den Träger dieser eigentlichen Tätigkeit, die Streitkraft, an sich und in ihren Hauptbeziehungen mit betrachten, denn das Gefecht wird durch sie gegeben und äußert seine Wirkungen wieder zunächst auf sie. Das Gefecht selbst muß sie in Beziehung auf seine möglichen Erfolge kennenlehren und die Kräfte des Geistes und Gemüts, welche bei dem Gebrauch desselben die wichtigsten sind.

Die Strategie ist der Gebrauch des Gefechts zum Zweck des Krieges; sie muß also dem ganzen kriegerischen Akt ein Ziel setzen, welches dem Zweck desselben entspricht, d. h. sie entwirft den Kriegsplan, und an dieses Ziel knüpft sie die Reihe der Handlungen an, welche zu demselben führen sollen, d. h. sie macht die Entwürfe zu den einzelnen Feldzügen und ordnet in diesen die einzelnen Gefechte an. Da sich alle diese Dinge meistens nur nach Voraussetzungen bestimmen lassen, die nicht alle zutreffen, eine Menge anderer, mehr ins einzelne gehender Bestimmungen sich aber gar nicht vorher geben lassen, so folgt von selbst, daß die Strategie mit ins Feld ziehen muß, um das Einzelne an Ort und Stelle anzuordnen und für das Ganze die Modifikationen zu treffen, die unaufhörlich erforderlich werden. Sie kann also ihre Hand in keinem Augenblick von dem Werke abziehen.

Daß man dies, wenigstens was das Ganze betrifft, nicht immer so angesehen hat, beweist die frühere Gewohnheit, die Strategie im Kabinett zu haben und nicht bei der Armee, welches nur dann zulässig ist, wenn das Kabinett dem Heer so nahe bleibt, daß es für das große Hauptquartier desselben genommen werden kann.

Die Theorie wird also der Strategie in diesem Entwurfe folgen, oder richtiger gesagt, sie wird die Dinge an sich und in ihren Verhältnissen zueinander beleuchten und das wenige herausheben, was sich als Grundsatz oder Regel ergibt.

Wenn wir uns aus dem ersten Kapitel erinnern, wieviel Gegenstände der größten Art der Krieg berührt, so werden wir begreifen, daß die Berücksichtigung aller einen seltenen Blick des Geistes voraussetzt.

Ein Fürst oder Feldherr, welcher seinen Krieg genau nach seinen Zwecken und Mitteln einzurichten weiß, nicht zu viel und zu wenig tut, gibt dadurch den größten Beweis seines Genies. Aber die Wirkungen dieser Genialität zeigen sich nicht sowohl in neuerfundenen Formen des Handelns, welche sogleich in die Augen fallen würden, als in dem glücklichen Endresultat des Ganzen. Es ist das richtige Zutreffen der stillen Voraussetzungen, es ist die geräuschlose Harmonie des ganzen Handelns, welche wir bewundern sollten, und die sich erst in dem Gesamterfolg verkündet.

Derjenige Forscher, welcher von diesem Gesamterfolg aus jener Harmonie nicht auf die Spur kommt, der sucht die Genialität leicht da, wo sie nicht ist und sein kann.

Es sind nämlich die Mittel und Formen, deren sich die Strategie bedient, so höchst einfach, durch ihre beständige Wiederkehr so bekannt, daß es dem gesunden Menschenverstand nur lächerlich vorkommen kann, wenn er so häufig die Kritik mit einer geschraubten Emphase davon sprechen hört. Eine tausendmal vorgekommene Umgehung wird hier wie der Zug der glänzendsten Genialität, dort der tiefsten Einsicht, ja selbst des umfassendsten Wissens gepriesen. Kann es abgeschmacktere Auswüchse in der Bücherwelt geben?

Immer lächerlicher wird es, wenn man sich noch hinzudenkt, daß eben diese Kritik nach der gemeinsten Meinung alle moralischen Größen von der Theorie ausschließt und es nur mit dem Materiellen zu tun haben will, so daß alles auf ein paar mathematische Verhältnisse von Gleichgewicht und Überlegenheit, von Zeit und Raum und ein paar Winkel und Linien beschränkt wird. Wäre es nichts als das, so würde sich ja aus solcher Misere kaum eine wissenschaftliche Aufgabe für einen Schulknaben bilden lassen.

Aber gestehen wir nur: es ist hier von wissenschaftlichen Formen und Aufgaben gar nicht die Rede; die Verhältnisse der materiellen Dinge sind alle sehr einfach; schwieriger ist das Auffassen der geistigen Kräfte, die im Spiel sind. Aber auch bei diesen sind die Geistesverwicklungen und die große Mannigfaltigkeit der Größen und Verhältnisse nur in den höchsten Regionen der Strategie zu suchen, da, wo sie an die Politik und Staatskunst grenzt oder vielmehr beides selbst wird, und da haben sie, wie wir schon gesagt haben, mehr Einfluß auf das Wieviel und Wiewenig als auf die Form der Ausführung. Wo diese vorherrscht, wie bei den einzelnen großen und kleinen Begebenheiten des Krieges, da sind die geistigen Größen schon auf eine geringe Anzahl zurückgebracht.

So ist denn in der Strategie alles sehr einfach, aber darum nicht auch alles sehr leicht. Ist aus den Verhältnissen des Staates einmal bestimmt, was der Krieg soll und was er kann, so ist der Weg dazu leicht gefunden; aber diesen Weg unverrückt zu verfolgen, den Plan durchzuführen, nicht durch tausend Veranlassungen tausendmal davon abgebracht zu werden, das erfordert außer einer großen Stärke des Charakters eine große Klarheit und Sicherheit des Geistes; und von tausend Menschen, die ausgezeichnet sein können, der eine durch Geist, der andere durch Scharfsinn, wieder andere durch Kühnheit oder durch Willensstärke, wird vielleicht nicht einer die Eigenschaften in sich vereinigen, die ihn in der Bahn des Feldherrn über die Linie des Mittelmäßigen erheben.

Es klingt sonderbar, ist aber gewiß für alle, die den Krieg in dieser Beziehung kennen, ausgemacht, daß zu einem wichtigen Entschluß in der Strategie viel mehr Stärke des Willens gehört als in der Taktik. In dieser reißt der Augenblick mit fort, der Handelnde fühlt sich in einem Strudel fortgezogen, gegen den er ohne die verderblichsten Folgen nicht ankämpfen darf, er unterdrückt die aufsteigenden Bedenklichkeiten und wagt mutig weiter. In der Strategie, wo alles viel langsamer abläuft, ist den eigenen und fremden Bedenklichkeiten, Einwendungen und Vorstellungen und also auch der unzeitigen Reue viel mehr Raum gegönnt, und da man die Dinge in der Strategie nicht wie in der Taktik wenigstens zur Hälfte mit eigenen leiblichen Augen sieht, sondern alles erraten und vermuten muß, so ist auch die Überzeugung weniger kräftig. Die Folge ist, daß die meisten Generale, wo sie handeln sollten, in falschen Bedenklichkeiten steckenbleiben.

Jetzt werfen wir einen Blick in die Geschichte; er fällt auf Friedrich des Großen Feldzug von 1760, berühmt durch die schönen Märsche und Manöver, ein rechtes Kunstwerk strategischer Meisterschaft, wie uns die Kritik rühmt. Sollen wir nun da außer uns geraten vor Bewunderung, daß der König nun Dauns rechte Flanke umgehen wollte, nun seine linke, dann wieder die rechte usw.? Sollen wir darin eine tiefe Weisheit sehen? Nein, das können wir nicht, wenn wir natürlich und ohne Ziererei urteilen wollen. Wir müssen vielmehr zuvörderst des Königs Weisheit bewundern, der bei seinen beschränkten Kräften ein großes Ziel verfolgend, nichts unternahm, was diesen Kräften nicht entsprochen hätte, und gerade genug, um seinen Zweck zu erreichen. Diese Weisheit des Feldherrn ist nicht bloß in diesem Feldzug sichtbar, sondern über alle drei Kriege des großen Königs verbreitet.

Schlesien in den sicheren Hafen eines wohl garantierten Friedens zu bringen, war sein Zweck.

An der Spitze eines kleinen Staates, den übrigen Staaten in den meisten Dingen ähnlich und nur durch einige Zweige der Verwaltung vor ihnen ausgezeichnet, konnte er kein Alexander werden, und als Karl XII. würde er sich wie jener das Haupt zerschellt haben. Wir finden daher in seiner ganzen Kriegführung jene verhaltene Kraft, die immer im Gleichgewicht schwebt, die es nie an Nachdruck fehlen läßt, sich im Augenblick großer Bedrängnis zum Erstaunenswürdigen erhebt und im nächsten Augenblick wieder ruhig fort oszilliert, um dem Spiel der leisesten politischen Regungen sich unterzuordnen. Weder Eitelkeit, noch Ehrgeiz, noch Rachsucht können ihn von dieser Bahn entfernen, und diese Bahn allein ist es, die ihn an den glücklichen Ausgang des Streites geführt hat.

Wie wenig vermögen diese paar Worte jene Seite des großen Feldherrn zu würdigen; nur wenn man den wunderbaren Ausgang dieses Kampfes sorgfältig ins Auge faßt und den Ursachen nachspürt, die ihn herbeigeführt, wird man von der Überzeugung durchdrungen, daß nur des Königs scharfer Blick ihn durch alle Klippen glücklich geführt hat.

Dies ist die eine Seite, welche wir an diesem großen Feldherrn bewundern, in dem Feldzug von 1760 und in allen anderen, aber in diesem vorzugsweise, weil er in keinem einer so überlegenen feindlichen Macht mit so geringen Opfern das Gleichgewicht gehalten hat.

Die andere Seite trifft die Schwierigkeit der Ausführung. Die Märsche zu einer Umgehung rechts und links sind leicht entworfen; der Gedanke, sein Häuflein immer dicht beisammen zu halten, um dem zerstreuten Feinde überall gewachsen zu sein, sich mit schnellen Bewegungen zu vervielfältigen, ist ebenso leicht gefunden als ausgesprochen; die Erfindung also kann unsere Bewunderung nicht erwecken, und von so einfachen Dingen bleibt nichts übrig, als zu gestehen, daß sie einfach sind.

Aber ein Feldherr versuche es einmal, diese Dinge Friedrich dem Großen nachzutun. Lange hinterher haben Schriftsteller, die Augenzeugen waren, von der Gefahr, ja von der Unvorsichtigkeit gesprochen, welche mit des Königs Lagern verbunden gewesen, und wir dürfen nicht zweifeln, daß im Augenblick, wo er sie nahm, diese Gefahr dreimal so groß erschien als hinterher.

Ebenso war es mit den Märschen unter den Augen, oft unter den Kanonen des feindlichen Heeres. Friedrich der Große nahm jene Lager und tat diese Märsche, weil er in Dauns Verfahrungsweise, in seiner Aufstellungsart, seiner Verantwortlichkeit und seinem Charakter diejenige Sicherung fand, die seine Lager und Märsche gewagt, aber nicht unbesonnen machten. Aber es gehörte des Königs Kühnheit, Entschlossenheit und die Stärke seines Willens dazu, um die Dinge so zu sehen und nicht von der Gefahr, von welcher man 30 Jahre hinterher noch schreiben und sprechen konnte, irre gemacht und abgeschreckt zu werden. Wenige Feldherren würden an Ort und Stelle diese einfachen Mittel der Strategie ausführbar geglaubt haben.

Nun wieder eine andere Schwierigkeit der Ausführung: des Königs Armee ist in diesem Feldzug unaufhörlich in Bewegung. Zweimal zieht sie hinter Daun her und, gefolgt von Lacy, auf schlechten Nebenwegen von der Elbe nach Schlesien (anfangs Juli und anfangs August). Sie muß in jedem Augenblick schlagfertig sein und ihre Märsche mit einer Kunst einrichten, die notwendig eine ebenso große Anstrengung zur Folge hat. Obgleich von Tausenden von Wagen begleitet und aufgehalten, ist ihre Verpflegung doch nur höchst kümmerlich. In Schlesien ist sie bis zur Schlacht von Líegnitz, 8 Tage lang, in beständigen Nachtmärschen verwickelt, immer in Auf- und Niederziehen an der feindlichen Front begriffen; - das kostet gewaltige Anstrengungen, das fordert große Entbehrungen.

Kann man glauben, daß sich das alles zugetragen habe ohne eine starke Friktion in der Maschine? Kann der Geist des Feldherrn solche Bewegungen mit der Leichtigkeit hervorbringen wie die Hand des Feldmessers die Bewegungen seines Abstrolabiums? Durchschneidet nicht der Anblick dieser Mühseligkeiten der armen hungernden und durstenden Kampfgenossen tausendmal das Herz der Führer und des obersten Führers? Kommen nicht die Klagen und Bedenklichkeiten darüber an sein Ohr? Hat ein gewöhnlicher Mensch Mut, dergleichen zu begehren, und werden solche Anstrengungen nicht unvermeidlich den Geist des Heeres herunterbringen, seine Ordnung lösen, kurz seine militärische Tugend untergraben, wenn nicht ein mächtiges Vertrauen zu der Größe und Unfehlbarkeit des Feldherrn alles gutmacht? - Hier also ist es, wo man Respekt haben soll; diese Wunder der Ausführung sind es, welche wir bewundern müssen. Alles dies aber fühlt sich mit seinem ganzen Gewicht nur, wenn man durch die Erfahrung einen Vorgeschmack davon bekommt; wer den Krieg nur aus Büchern und von Exerzierplätzen kennt, für den ist im Grunde dieses ganze Gegengewicht des Handelns nicht vorhanden; er möge daher, was ihm aus eigener Erfahrung nicht werden kann, von uns auf Treu und Glauben annehmen.

Wir haben durch dieses Beispiel dem Gange unserer Vorstellungen mehr Klarheit geben wollen und eilen nun zum Schluß dieses Kapitels zu sagen, daß wir in unserer Darstellung der Strategie diejenigen einzelnen Gegenstände derselben, welche uns die wichtigsten scheinen, sie mögen nun materieller oder geistiger Natur sein, auf unsere Weise charakterisieren, von dem Einzelnen zum Zusammengesetzten fortschreiten und mit dem Zusammenhang des ganzen kriegerischen Aktes, d. h. mit dem Kriegs- und Feldzugsplan schließen werden.

 

Anmerkung. In dem Manuskript einer früheren Bearbeitung des zweiten Buches befinden sich folgende Stellen von der Hand des Verfassers: »für das erste Kapitel des dritten Buches zu benutzen«, bezeichnet. Die beabsichtigte Umarbeitung dieses Kapitels unterblieb, man gibt daher die erwähnten Stellen ihrem vollen Inhalte nach.

 

Durch die bloße Aufstellung von Streitkräften auf einem Punkt wird ein Gefecht daselbst bloß möglich, und nicht immer findet es wirklich statt. Ist nun jene Möglichkeit schon als Realität zu betrachten, als ein wirkliches Ding? Allerdings. Sie wird es durch ihre Folgen, und diese Wirkungen, welche sie auch sein mögen, können niemals fehlen.

 

Mögliche Gefechte sind der Folgen wegen als wirkliche zu betrachten

 

Wenn man einen Haufen absendet, um dem fliehenden Feinde den Rückweg zu versperren, und er sich darauf ergibt, ohne weiter zu fechten, so ist es doch nur das Gefecht, welches ihm dieser abgesandte Haufen anbietet, wodurch sein Entschluß hervorgebracht ist.

Wenn ein Teil unseres Heeres eine feindliche Provinz besetzt, die ohne Verteidigung war und dem Feinde dadurch beträchtliche Kräfte zur Ergänzung seines Heeres entzieht, so ist es nur das Gefecht, welches dieser abgesandte Teil dem Feinde vorher sehen läßt, im Fall er die Provinz wieder nehmen wollte, wodurch wir im Besitz derselben bleiben.

In beiden Fällen hat also die bloße Möglichkeit des Gefechts Folgen gehabt und ist dadurch in die Reihe der wirklichen Dinge getreten. Gesetzt, der Feind hätte in beiden Fällen unseren Korps andere entgegengestellt, denen sie nicht gewachsen wären, und sie dadurch bewogen, ohne Gefecht ihren Zweck aufzugeben, so ist zwar unser Zweck verfehlt, aber das Gefecht, welches wir dem Feinde auf diesem Punkte anboten, darum doch nicht ohne Wirkung geblieben, denn es hat die feindlichen Kräfte herbeigezogen. Selbst dann, wenn uns das ganze Unternehmen zum Schaden gereicht, kann man nicht sagen, daß jene Aufstellungen, jene möglichen Gefechte ohne Wirkung geblieben seien; diese Wirkungen sind dann denen eines verlorenen Gefechts ähnlich.

Auf diese Weise zeigt sich, daß die Vernichtung der feindlichen Streitkräfte und die Niederwerfung der feindlichen Macht nur durch die Wirkungen des Gefechts geschehen, sei es, daß es wirklich stattfinde, oder daß es bloß angeboten und nicht angenommen werde.

 

Doppelter Zweck des Gefechts

 

Aber diese Wirkungen sind auch doppelter Art: unmittelbare und mittelbare. Das letztere sind sie, wenn andere Gegenstände sich einschieben und Zweck des Gefechts werden, die nicht schon an sich als Vernichtung feindlicher Streitkräfte angesehen werden können, sondern die erst dazu führen sollen, zwar mit einem Umweg, aber mit um so größerer Gewalt. Der Besitz von Provinzen, Städten, Festungen, Straßen, Brücken, Magazinen usw. kann der nächste Zweck eines Gefechts sein, aber niemals der letzte. Immer müssen diese Gegenstände nur als Mittel zu größerer Überlegenheit angesehen werden, um dem Gegner zuletzt in solcher Lage das Gefecht anzubieten, daß es ihm unmöglich ist, dasselbe anzunehmen. Es sind also alle diese Dinge nur als Zwischenglieder, gleichsam als Leiter des wirksamen Prinzips anzusehen, niemals als das wirksame Prinzip selbst.

 

Beispiele

 

Als man im Jahre 1814 Bonapartes Hauptstadt eingenommen hatte, war der Zweck des Krieges erreicht. Die politischen Spaltungen, welche ihre Wurzel in Paris hatten, traten in Wirksamkeit, und ein ungeheurer Riß ließ die Macht des Imperators in sich zusammensinken. Nichtsdestoweniger ist man genötigt, alles dies unter dem Gesichtspunkte zu betrachten, daß dadurch die Streitkraft und die Widerstandsfähigkeit Bonapartes plötzlich sehr vermindert, die Überlegenheit der Verbündeten also in eben dem Maße erhöht und nun jeder fernere Widerstand unmöglich wurde. Diese Unmöglichkeit war es, die den Frieden mit Frankreich gab. Denkt man sich die Streitkräfte in diesem Augenblick durch äußere Umstände in eben dem Maße verringert, verschwindet die Überlegenheit, so verschwindet auch die ganze Wirkung und Wichtigkeit der Einnahme von Paris.

Wir haben diese Vorstellungsreihe durchlaufen, um zu zeigen, daß dies die natürliche und einzig wahre Ansicht der Sache ist, woraus sich ihre Wichtigkeit ergibt. Sie führt unaufhörlich zu der Frage zurück: welches wird in jedem Augenblick des Krieges und des Feldzuges der wahrscheinliche Erfolg der großen und kleinen Gefechte sein, die beide Teile einander anzubieten haben? Nur diese Frage entscheidet bei dem Durchdenken eines Feldzugs- oder Kriegsplans über die Maßregeln, die man von vornherein zu nehmen hat.

 

Sieht man es nicht so an, so gibt man anderen Dingen einen falschen Wert

 

Gewöhnt man sich nicht, den Krieg und im Kriege den einzelnen Feldzug als eine Kette zu betrachten, die aus lauter Gefechten zusammengesetzt ist, wo eins immer das andere herbeiführt, gibt man sich der Vorstellung hin, daß die Einnahme gewisser geographischer Punkte, die Besitznahme unverteidigter Provinzen an sich etwas sei, so ist man auch nahe daran, es als einen Vorteil zu betrachten, den man nebenbei einstecken könnte, und indem man es so, und nicht als ein Glied in der ganzen Reihe der Begebenheiten betrachtet, fragt man sich nicht, ob dieser Besitz nicht später zu größeren Nachteilen führen wird. Wie oft finden wir diesen Fehler in der Kriegsgeschichte wieder. Man möchte sagen: so wie der Negoziant den Gewinn einer einzelnen Unternehmung nicht beiseite und in Sicherheit bringen kann, so kann auch im Kriege ein einzelner Vorteil nicht von dem Erfolg des Ganzen gesondert werden. So wie jener immer mit der ganzen Masse seines Vermögens wirken muß, ebenso wird im Kriege nur die endliche Summe über den Vorteil und Nachteil des einzelnen entscheiden.

Ist aber der Blick des Geistes immer auf die Reihe der Gefechte gerichtet, soweit sie sich vorher übersehen läßt, so ist er auch immer auf dem geraden Wege zum Ziele, und dabei bekommt die Bewegung der Kraft diejenige Geschwindigkeit, d. h. Wollen und Handeln diejenige Energie, die der Sache gemäß und nicht von fremdartigen Einflüssen gestört ist.

Zweites Kapitel: Elemente der Strategie

Man kann die in der Strategie den Gebrauch des Gefechts bedingenden Ursachen füglich in Elemente verschiedener Art abteilen, nämlich in die moralischen, die physischen, die mathematischen, die geographischen und die statistischen Elemente.

In die Klasse der ersteren würde alles gehören, was durch geistige Eigenschaften und Wirkungen hervorgerufen wird; in die zweite Klasse die Größe der Streitkräfte, ihre Zusammensetzung, das Verhältnis der Waffen usw.; in die dritte Klasse die Winkel der Operationslinien, die konzentrischen und exzentrischen Bewegungen, insofern ihre geometrische Natur einen Wert in der Rechnung bekommt; in die vierte der Einfluß der Gegend, als: dominierende Punkte, Gebirge, Flüsse, Wälder, Straßen; in die fünfte endlich die Mittel des Unterhalts usw. Daß man sich diese Elemente einmal getrennt denke, hat sein Gutes, um Klarheit in die Vorstellungen zu bringen und um den größeren oder geringeren Wert dieser verschiedenen Klassen gleich im Vorbeigehen zu schätzen. Denn indem man sie sich getrennt denkt, verlieren manche von selbst die erborgte Wichtigkeit; man fühlt z. B. gleich deutlich, daß der Wert einer Operationsbasis, wenn man davon auch nichts als die Lage der Operationslinie betrachten wollte, doch in dieser einfachen Gestalt immer noch viel weniger von dem geometrischen Element der Winkel abhängt, die sie miteinander machen, als von der Beschaffenheit der Wege und der Gegend, durch welche sie führen.

Wenn man aber die Strategie nach diesen Elementen abhandeln wollte, so wäre das der unglücklichste Gedanke, den man haben könnte, denn diese Elemente sind meistens in den einzelnen kriegerischen Akten vielfach und innig miteinander verbunden; man würde sich in der leblosesten Analyse verlieren, und wie in einem bösen Traum würde man ewig umsonst versuchen, von diesen abstrakten Grundlagen den Bogen zu den Erscheinungen der wirklichen Welt hinüber zu wölben. Der Himmel behüte einen jeden Theoretiker vor einem solchen Beginnen. Wir wollen uns an die Welt der Totalerscheinungen halten und unsere Analyse nicht weitertreiben, als jedesmal zur Verständlichkeit des Gedankens notwendig ist, den wir mitteilen wollen, und der uns nicht etwa bei einer spekulativen Untersuchung, sondern durch den Eindruck der Totalerscheinungen des Krieges geworden ist.

Drittes Kapitel: Moralische Größen

Noch einmal müssen wir auf diesen Gegenstand zurückkommen, den wir im dritten Kapitel des zweiten Buches berührt haben, weil die moralischen Größen zu den wichtigsten Gegenständen des Krieges gehören. Es sind die Geister, welche das ganze Element des Krieges durchdringen, und die sich an den Willen, der die ganze Masse der Kräfte in Bewegung setzt und leitet, früher und mit stärkerer Affinität anschließen, gleichsam mit ihm in eins zusammenrinnen, weil er selbst eine moralische Größe ist. Leider suchen sie sich aller Bücherweisheit zu entziehen, weil sie sich weder in Zahlen noch in Klassen bringen lassen und gesehen oder empfunden sein wollen.

Der Geist und die übrigen moralischen Eigenschaften des Heeres, des Feldherrn, der Regierungen, die Stimmung der Provinzen, worin der Krieg geführt wird, die moralische Wirkung eines Sieges oder einer Niederlage sind Dinge, die an sich sehr verschiedenartig sind und in ihrer Stellung zu unserem Zweck und unseren Verhältnissen wieder sehr verschiedenartigen Einfluß haben können.

Wenn sich auch in Büchern darüber wenig oder nichts sagen läßt, so gehören diese Dinge darum doch zur Theorie der Kriegskunst so gut wie alles andere, was den Krieg ausmacht. Denn ich muß es noch einmal sagen: es ist doch eine armselige Philosophie, wenn man nach alter Art seine Regeln und Grundsätze diesseits aller moralischen Größen abschließt, und sowie diese erscheinen, die Ausnahmen zu zählen anfängt, die man dadurch gewissermaßen wissenschaftlich konstituiert, d. h. zur Regel macht; oder wenn man sich dadurch hilft, an das Genie zu appellieren, welches über alle Regeln erhaben ist, wodurch man im Grunde zu verstehen gibt, daß die Regeln nicht allein für Dummköpfe geschrieben werden, sondern auch wirklich selbst dumm sein müssen.

Wenn die Theorie der Kriegskunst wirklich auch weiter nichts tun könnte, als daß sie an diese Gegenstände erinnert, daß sie die Notwendigkeit dartut, die moralischen Größen in ihrem ganzen Wert zu würdigen und in die Rechnung mit aufzunehmen, so hätte sie ihre Grenzen schon über dieses Reich der Geister ausgedehnt und durch die Feststellung dieser Gesichtspunkte jeden im voraus verurteilt, der sich bloß mit dem physischen Verhältnis der Kräfte vor ihrem Richterstuhl rechtfertigen wollte.

Aber auch um aller übrigen sogenannten Regeln willen darf die Theorie die moralischen Größen nicht aus ihren Grenzen verweisen, weil die Wirkungen der physischen Kräfte mit den Wirkungen der moralischen ganz verschmolzen und nicht wie eine metallische Legíerung durch einen chemischen Prozeß davon zu scheiden sind. Bei jeder auf die physischen Kräfte sich beziehenden Regel muß der Theorie im Geist der Anteil vorschweben, den die moralischen Größen dabei haben können, wenn sie sich nicht zu kategorischen Sätzen verleiten lassen soll, die bald zu furchtsam und beschränkt, bald zu anmaßend und ausgedehnt sind. Selbst die geistlosesten Theorien haben, sich selbst unbewußt, in dieses Geisterreich hinüberschweifen müssen; denn es läßt sich z. B. kein Sieg in seinen Wirkungen einigermaßen erklären, ohne auf die moralischen Eindrücke Rücksicht zu nehmen. Und so sind denn auch die meisten Gegenstände, welche wir in diesem Buche durchlaufen, halb aus physischen, halb aus moralischen Ursachen und Wirkungen zusammengesetzt, und man möchte sagen: die physischen erscheinen fast nur wie das hölzerne Heft, während die moralischen das edle Metall, die eigentliche, blank geschliffene Waffe sind.

Am besten wird der Wert der moralischen Größen überhaupt bewiesen und ihr oft unglaublicher Einfluß gezeigt durch die Geschichte; und dies ist der edelste und gediegenste Nahrungsstoff, den der Geist des Feldherrn aus ihr zieht. - Dabei ist zu bemerken, daß Demonstrationen und kritische Untersuchungen und gelehrte Abhandlungen es weniger sind als Empfindungen, Totaleindrücke und einzelne sprühende Geistesfunken, die die Weisheitskörner absetzen, welche die Seele befruchten sollen.

Wir könnten die hauptsächlichsten der moralischen Erscheinungen im Kriege durchgehen und mit der Sorgfalt eines fleißigen Dozenten versuchen, was sich über eine jede Gutes oder Schlechtes beibringen ließe. Aber da man bei dieser Methode nur zu sehr in Gemeinsprüche und Alltäglichkeiten verfällt, während der eigentliche Geist in der Analyse schnell entweicht, so kommt man unvermerkt dazu, Dinge zu erzählen, die jeder Mensch weiß. Wir ziehen es daher vor, hier noch mehr als sonst unvollständig und rhapsodisch zu bleiben, im allgemeinen auf die Wichtigkeit der Sache aufmerksam gemacht und den Geist angedeutet zu haben, in welchem die Ansichten dieses Buches aufgefaßt sind.

Viertes Kapitel: Die moralischen Hauptpotenzen

Sie sind: die Talente des Feldherrn, kriegerische Tugend des Heeres, Volksgeist desselben. Welcher dieser Gegenstände mehr Wert hat, kann niemand im allgemeinen bestimmen, denn es ist schon an sich schwer, von ihrer Größe überhaupt etwas auszusagen, und noch schwerer, die Größe des einen an der Größe des anderen abzuwägen. Das beste ist, keinen gering zu achten, wozu das menschliche Urteil in seinem etwas grillenhaften Hin- und Herlaufen bald auf dieser, bald auf jener Seite geneigt ist. Es ist besser, sich für die unverkennbare Wirksamkeit dieser drei Gegenstände hinlängliche historische Zeugnisse aufzustellen.

Indessen ist es wahr, daß in der neueren Zeit die Heere der europäischen Staaten ziemlich alle auf denselben Punkt von innerer Fertigkeit und Ausbildung gekommen sind, und daß das Kriegführen sich, mit einem Ausdruck des Philosophen, so naturgemäß ausgebildet hat, dabei zu einer Art Methode geworden ist, die ziemlich alle Heere innehaben, daß auch von seiten des Feldherrn auf die Anwendung besonderer Kunstmittel im engeren Sinn (etwa wie Friedrichs des Zweiten schiefe Schlachtordnung) nicht mehr zu rechnen ist. Es ist also nicht zu leugnen, daß, wie die Sachen jetzt stehen, dem Volksgeist und der Kriegsgewohnheit des Heeres ein um so größerer Spielraum bleibt. Ein langer Friede könnte dies wieder ändern.

Der Volksgeist des Heeres (Enthusiasmus, fanatischer Eifer, Glaube, Meinung) spricht sich im Gebirgskriege am stärksten aus, wo jeder sich selbst überlassen ist bis zum einzelnen Soldaten hinab. Schon darum sind Gebirge für Volksbewaffnungen die besten Kampfplätze.

Kunstvolle Fertigkeit des Heeres und der gestählte Mut, der die Haufen zusammenhält, als wären sie aus einem Guß, zeigen sich am überlegensten in der freien Ebene.

Das Talent des Feldherrn hat den meisten Spielraum in einer durchschnittenen, hügelreichen Gegend. Im Gebirge ist er zu wenig Herr der einzelnen Teile, und die Leitung alter geht über seine Kräfte; in der freien Ebene ist sie zu einfach und erschöpft diese Kräfte nicht.

Nach diesen unverkennbaren Wahlverwandtschaften sollten sich die Entwürfe richten.

Fünftes Kapitel: Kriegerische Tugend des Heeres

Sie unterscheidet sich von der bloßen Tapferkeit und noch mehr von dem Enthusiasmus für die Sache des Krieges. Die erstere ist freilich ein notwendiger Bestandteil derselben, aber so wie sie, die in dem bloßen Menschen eine natürliche Anlage ist, bei einem Krieger als einem Teil eines Heeres auch aus Gewohnheit und Übung entstehen kann, so muß sie bei diesem auch eine andere Richtung haben als beim bloßen Menschen. Sie muß den Trieb nach ungezügelter Tätigkeit und Kraftäußerung verlieren, der ihr im Individuum eigen ist, sich selbst den Forderungen höherer Art, dem Gehorsam, der Ordnung, Regel und der Methode unterordnen. Der Enthusiasmus für die Sache gibt der kriegerischen Tugend eines Heeres Leben und stärkeres Feuer, aber er ist kein notwendiger Bestandteil derselben.

Krieg ist ein bestimmtes Geschäft (und wie allgemein auch seine Beziehung sei, und wenn auch alle waffenfähigen Männer eines Volkes dasselbe trieben, so würde es doch immer ein solches bleiben), verschieden und getrennt von den übrigen Tätigkeiten, die das Menschenleben in Anspruch nehmen. - Von dem Geiste und Wesen dieses Geschäftes durchdrungen sein, die Kräfte, die in ihm tätig sein sollen, in sich üben, erwecken und aufnehmen, das Geschäft mit dem Verstande ganz durchdringen, durch Übung Sicherheit und Leichtigkeit in demselben gewinnen, ganz darin aufgehen, aus dem Menschen übergehen in die Rolle, die uns darin angewiesen wird: das ist die kriegerische Tugend des Heeres in dem einzelnen.

Wie sorgfältig man sich also auch den Bürger neben dem Krieger in einem und demselben Individuum ausgebildet denken, wie sehr man sich die Kriege nationalisieren, und wie weit man sie sich in einer Richtung hinaus denken möge, entgegengesetzt der ehemaligen Kondottieris: niemals wird man die Individualität des Geschäftsganges aufheben können, und wenn man das nicht kann, so werden auch immer diejenigen, welche es treiben, und solange sie es treiben, sich als eine Art Innung ansehen, in deren Ordnungen, Gesetzen und Gewohnheiten sich die Geister des Krieges vorzugsweise fixieren. Und so wird es auch in der Tat sein. Man würde also bei der entschiedensten Neigung, den Krieg vom höchsten Standpunkt aus zu betrachten, sehr unrecht haben, den Innungsgeist (esprit de corps) mit Geringschätzung anzusehen, der mehr oder weniger in einem Heer vorhanden sein kann und muß. Dieser Innungsgeist gibt in dem, was wir kriegerische Tugend des Heeres nennen, gewissermaßen das Bindemittel ab unter den natürlichen Kräften, die darin wirksam sind. Es schießen an dem Geist der Innung die Kristalle kriegerischer Tugend leichter an.

Ein Heer, welches in dem zerstörendsten Feuer seine gewohnten Ordnungen behält, welches niemals von einer eingebildeten Furcht geschreckt wird und der gegründeten den Raum Fuß für Fuß streitig macht, stolz im Gefühl seiner Siege, auch mitten im Verderben der Niederlage die Kraft zum Gehorsam nicht verliert, nicht die Achtung und das Zutrauen zu seinen Führern, dessen körperliche Kräfte in der Übung von Entbehrung und Anstrengung gestärkt sind wie die Muskeln eines Athleten, welches diese Anstrengungen ansieht als ein Mittel zum Siege, nicht als einen Fluch, der auf seinen Fahnen ruht, und welches an alle diese Pflichten und Tugenden durch den kurzen Katechismus einer einzigen Vorstellung erinnert wird, nämlich die Ehre seiner Waffen, - ein solches Heer ist vom kriegerischen Geiste durchdrungen.

Man kann sich vorzüglich schlagen wie die Vendéer und Großes bewirken wie die Schweizer, die Amerikaner, die Spanier, ohne diese kriegerische Tugend zu entwickeln; man kann sogar glücklich sein an der Spitze stehender Heere wie Eugen und Marlborough, ohne sich ihres Beistandes vorzüglich zu erfreuen; man soll also nicht sagen, daß ein glücklicher Krieg ohne sie nicht denkbar sei, und wir machen hierauf besonders aufmerksam, um den Begriff, welchen wir hier aufstellen, mehr zu individualisieren, damit die Vorstellungen nicht im allgemeinen verschwimmen, und man nicht glaube, die kriegerische Tugend sei am Ende eins und alles. So ist es nicht. Die kriegerische Tugend eines Heeres erscheint als eine bestimmte moralische Potenz, die man sich hinwegdenken, deren Einfluß man also schätzen, - als ein Werkzeug, dessen Kraft man berechnen kann.

Nachdem wir sie so charakterisiert haben, wollen wir versuchen, was sich über ihren Einfluß sagen läßt und über die Mittel, ihn zu gewinnen.

Die kriegerische Tugend ist für die Teile überall, was der Genius des Feldherrn für das Ganze ist. Nur das Ganze kann der Feldherr leiten, nicht jeden einzelnen Teil, und wo er den Teil nicht leiten kann, da muß der kriegerische Geist sein Führer werden. Der Feldherr wird gewählt nach dem Ruf seiner ausgezeichneten Eigenschaften; die vornehmeren Führer großer Haufen nach sorgfältiger Prüfung; aber diese Prüfung nimmt ab, je tiefer man hinuntersteigt, und in eben dem Maße dürfen wir also weniger auf individuelle Anlagen rechnen; was aber an diesen abgeht, muß die kriegerische Tugend ersetzen. Eben diese Rollen spielen die natürlichen Eigenschaften eines zum Kriege gerüsteten Volkes: Tapferkeit, Gewandtheit, Abhärtung und Enthusiasmus. Diese Eigenschaften also können den kriegerischen Geist ersetzen und umgekehrt, woraus sich denn Folgendes ergibt:

1. Die kriegerische Tugend ist nur den stehenden Heeren eigen, sie bedürfen ihrer auch am meisten. Bei Volksbewaffnungen und Kriegen werden sie durch die natürlichen Eigenschaften ersetzt, die sich da schneller entwickeln.

2. Stehende Heere gegen stehende Heere können ihrer eher entbehren als stehende Heere gegen Volksbewaffnungen; denn in diesem Falle sind die Kräfte geteilter und die Teile sich mehr selbst überlassen. Wo das Heer aber zusammengehalten werden kann, nimmt der Genius des Feldherrn eine größere Stelle ein und ersetzt, was dem Geist des Heeres fehlt. Überhaupt wird also kriegerische Tugend um so nötiger, je mehr der Kriegsschauplatz und andere Umstände den Krieg verwickelt machen und die Kräfte zerstreuen.

Die einzige Lehre, welche sich aus diesen Wahrheiten ziehen läßt, ist die: daß man, wenn einem Heere diese Potenz abgeht, den Krieg so einfach als möglich einzurichten suche oder seine Vorsorge für andere Punkte der Kriegseinrichtung verdoppele und nicht etwa von dem bloßen Namen des stehenden Heeres erwarte, was nur die Sache leisten kann.

Es ist also die kriegerische Tugend des Heeres eine der bedeutendsten moralischen Potenzen im Kriege, und wo sie gefehlt hat, sehen wir entweder eine der anderen sie ersetzen, wie die überlegene Größe des Feldherrn, der Enthusiasmus des Volkes, oder wir finden Wirkungen, die den gemachten Anstrengungen nicht entsprechen. - Wie viel Großes dieser Geist, diese Gediegenheit des Heeres, diese Veredlung des Erzes bis zum strahlenden Metall schon geleistet hat, sehen wir an den Mazedoniern unter Alexander, den römischen Legionen unter Cäsar, an der spanischen Infanterie unter Alexander Farnese, den Schweden unter Gustav Adolf und Karl XII., den Preußen unter Friedrich dem Großen und den Franzosen unter Bonaparte. Man müßte absichtlich die Augen verschließen gegen alle historischen Beweise, wenn man nicht zugeben wollte, daß die wunderbaren Erfolge dieser Feldherren und ihre Größe in den schwierigsten Lagen nur bei einem so potenzierten Heere möglich waren.

Entstehen kann dieser Geist nur aus zwei Quellen, und diese können ihn nur gemeinschaftlich erzeugen. Die erste ist eine Reihe von Kriegen und glücklichen Erfolgen, die andere eine oft bis zur höchsten Anstrengung getriebene Tätigkeit des Heeres. Nur in dieser lernt der Krieger seine Kräfte kennen. Je mehr ein Feldherr gewohnt ist, von seinen Soldaten zu fordern, um so sicherer ist er, daß die Forderung geleistet wird. Der Soldat ist ebenso stolz auf überwundene Mühseligkeiten als auf überstandene Gefahren. Also nur in dem Boden einer beständigen Tätigkeit und Anstrengung gedeiht dieser Keim; aber auch nur im Sonnenlicht des Sieges. Ist er einmal zum starken Baum ausgebildet, so widersteht er den größten Stürmen von Unglück und Niederlage und sogar der trägen Ruhe des Friedens wenigstens eine Zeitlang. Entstehen kann er also nur im Kriege und unter großen Feldherren, aber dauern kann er freilich, wenigstens mehrere Generationen hindurch, auch unter mittelmäßigen und bei beträchtlichen Friedensepochen.

Mit diesem erweiterten und veredelten Bandengeist einer narbenvollen abgehärteten Kriegerrotte soll man nicht das Selbstgefühl und die Eitelkeit stehender Heere vergleichen, die bloß durch den Leim eines Dienst- und Exerzierreglements zusammengehalten werden. - Ein gewisser schwerer Ernst und strenge Dienstordnung können die kriegerische Tugend einer Truppe länger erhalten, aber sie erzeugen sie nicht; sie behalten darum immer ihren Wert, aber man soll sie nicht überschätzen. Ordnung, Fertigkeit, guter Wille, auch ein gewisser Stolz und eine vorzügliche Stimmung sind Eigenschaften eines im Frieden erzogenen Heeres, die man schätzen muß, die aber keine Selbständigkeit haben. Das Ganze hält das Ganze, und wie beim zu schnell erkalteten Glase zerbröckelt ein einziger Riß die ganze Masse. Besonders verwandelt sich die beste Stimmung von der Welt beim ersten Unfall nur zu leicht in Kleinmut und, man möchte sagen, in eine Art von Großsprecherei der Angst: das französische sauve qui peut. - Ein solches Heer vermag nur durch seinen Feldherrn etwas, nichts durch sich selbst. Es muß mit doppelter Vorsicht geführt werden, bis nach und nach in Sieg und Anstrengung die Kraft in die schwere Rüstung hineinwächst. Man hüte sich also, Geist des Heeres mit Stimmung desselben zu verwechseln.

Sechstes Kapitel: Die Kühnheit

Welche Stelle und Rolle die Kühnheit einnimmt in dem dynamischen System der Kräfte, wo sie der Vorsicht und Behutsamkeit entgegensteht, haben wir in dem Kapitel von der Sicherheit des Erfolges gesagt, um damit zu zeigen, daß die Theorie kein Recht hat, sie unter dem Vorwande ihrer Gesetzgebung einzuschränken.

Aber diese edle Schwungkraft, womit die menschliche Seele sich über die drohendsten Gefahren erhebt, ist im Kriege auch als ein eigenes wirksames Prinzip zu betrachten. In der Tat, in welchem Gebiet menschlicher Tätigkeit sollte die Kühnheit ihr Bürgerrecht haben, wenn es nicht im Kriege wäre?

Sie ist vom Troßknecht und Tambour bis zum Feldherrn hinauf die edelste Tugend, der rechte Stahl, welcher der Waffe ihre Schärfe und ihren Glanz gibt.

Gestehen wir uns nur: sie hat im Kriege sogar eigene Vorrechte. Über den Erfolg des Kalküls mit Raum, Zeit und Größe hinaus müssen ihr noch gewisse Prozente zugestanden werden, die sie jedesmal, wo sie sich überlegen zeigt, aus der Schwäche der andern zieht. Sie ist also eine wahrhaft schöpferische Kraft. Dies ist selbst philosophisch nicht schwer nachzuweisen. Sooft die Kühnheit auf die Zaghaftigkeit trifft, hat sie notwendig die Wahrscheinlichkeit des Erfolges für sich, weil Zaghaftigkeit schon ein verlorenes Gleichgewicht ist. Nur wo sie auf besonnene Vorsicht trifft, die, man möchte sagen, ebenso kühn, in jedem Fall ebenso stark und kräftig ist als sie selbst, muß sie im Nachteil sein; das sind aber schon die seltenen Fälle. In der ganzen Schar der Vorsichtigen befindet sich eine ansehnliche Majorität, die es aus Furchtsamkeit ist.

In dem großen Haufen ist die Kühnheit eine Kraft, deren vorzügliche Ausbildung nie zum Nachteil anderer Kräfte gereichen kann, weil der große Haufen durch die Rahmen und Gefüge der Schlachtordnung und des Dienstes an einen höheren Willen gebunden und also von fremder Einsicht geleitet wird. Hier bleibt die Kühnheit nur bis zum Losschnellen immer gespannte Federkraft.

Je höher wir unter den Führern hinaufsteigen, je notwendiger wird es, daß der Kühnheit ein überlegender Geist zur Seite trete, daß sie nicht zwecklos, nicht ein blinder Stoß der Leidenschaft sei; denn immer weniger betrifft es die eigene Aufopferung, immer mehr knüpft sich die Erhaltung anderer und die Wohlfahrt eines großen Ganzen daran. Was also bei dem großen Haufen die zur zweiten Natur gewordene Dienstordnung regelt, das muß in dem Führer die Überlegung regeln, und hier kann die Kühnheit einer einzelnen Handlung schon leicht zum Fehler werden. Aber dennoch bleibt es ein schöner Fehler, der nicht angesehen werden muß wie jeder andere. Wohl dem Heere, wo sich eine unzeitige Kühnheit häufig zeigt; es ist ein üppiger Auswuchs, aber der Zeuge eines kräftigen Bodens. Selbst die Tollkühnheit, d. h. die Kühnheit ohne allen Zweck, ist nicht mit Geringschätzung anzusehen; im Grunde ist es dieselbe Kraft des Gemütes, nur ohne alles Zutun des Geistes, in einer Art Leidenschaft ausgeübt. Nur wo die Kühnheit sich gegen den Gehorsam des Geistes auflehnt, wo sie einen ausgesprochenen höheren Willen geringschätzend verläßt, da muß sie, nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen des Ungehorsams wie ein gefährliches Übel behandelt werden, denn nichts geht im Kriege über den Gehorsam. -

Daß bei einem gleichen Grade von Einsicht im Kriege tausendmal mehr verdorben wird durch Ängstlichkeit als durch Kühnheit, das brauchen wir wohl nur auszusprechen, um des Beifalls unserer Leser gewiß zu sein.

Im Grunde sollte das Hinzutreten eines vernünftigen Zweckes die Kühnheit erleichtern, sie also an und für sich heruntersetzen; und doch ist es gerade umgekehrt.

Allen Kräften des Gemütes benimmt das Hinzutreten des lichten Gedankens oder gar das Vorherrschen des Geistes einen großen Teil ihrer Gewalt. Darum wird die Kühnheit immer seltener, je höher wir hinaufsteigen in den Graden; denn wenn auch die Einsicht und der Verstand nicht mit diesen Graden wachsen sollten, so werden doch den Führern in ihren verschiedenen Stationen die objektiven Größen, Verhältnisse und Rücksichten von außen her so viel und stark aufgedrungen, daß sie gerade nur um so mehr davon belastet sind, je weniger es die eigene Einsicht ist. Dies ist im Kriege der hauptsächlichste Grund der in dem französischen Sprichwort bewahrten Lebenserfahrung: Tel brille au second qui s'éclipse au premier. Fast alle Generale, die uns die Geschichte als mittelmäßige oder gar unentschlossene Feldherren kennenlehrt, hatten sich in geringeren Graden durch Kühnheit und Entschlossenheit ausgezeichnet.

Bei denjenigen Motiven zu einer kühnen Handlung, welche aus dem Drang der Notwendigkeit entspringen, muß man einen Unterschied machen. Diese Notwendigkeit hat ihre Grade. Liegt sie nahe, wird der Handelnde zur Verfolgung seines Ziels zwischen großen Gefahren hingetrieben, um anderen, ebenso großen Gefahren zu entgehen, so kann man nur noch die Entschlossenheit bewundern, die aber auch noch ihren Wert hat. Wenn ein junger Mensch, um seine Geschicklichkeit als Reiter zu zeigen, über einen tiefen Abgrund sprengt, so ist es kühn; wenn er denselben Sprung tut, verfolgt von einer Rotte kopfabschneidender Janitscharen, so ist er bloß entschlossen. Je weiter aber die Notwendigkeit von der Handlung entfernt ist, je größer die Zahl der Verhältnisse ist, die der Verstand durchlaufen muß, um sich ihrer bewußt zu werden, um so weniger tut sie der Kühnheit Eintrag. Wenn Friedrich der Große im Jahr 1756 den Krieg als unvermeidlich ansah und seinem Untergang nur entgehen konnte, wenn er seinen Feinden zuvor kam, so war es notwendig, den Krieg selbst anzufangen, aber gewiß zu gleicher Zeit sehr kühn, denn nur wenige Männer in seiner Lage würden sich dazu entschlossen haben.

Obgleich die Strategie nur das Gebiet der Feldherren oder der Führer in den höchsten Stellen ist, so ist ihr doch die Kühnheit aller übrigen Glieder des Heeres ebensowenig ein gleichgültiger Gegenstand, wie die anderen kriegerischen Tugenden desselben. Mit einem Heere, was von einem kühnen Volke ausgegangen und in welchem der Geist der Kühnheit immer genährt worden ist, lassen sich andere Dinge unternehmen als mit einem, was dieser kriegerischen Tugend entfremdet ist; darum haben wir derselben auch für das Heer gedacht. Aber ganz eigentlich ist die Kühnheit des Feldherrn unser Gegenstand, und doch haben wir nicht viel davon zu sagen, nachdem wir diese kriegerische Tugend im allgemeinen nach unserem besten Wissen charakterisiert haben.

Je höher wir in den Führerstellen hinaufsteigen, um so mehr wird Geist, Verstand und Einsicht in der Tätigkeit vorherrschend, um so mehr wird also die Kühnheit, welche eine Eigenschaft des Gemütes ist, zurückgedrängt, und darum finden wir sie in den höchsten Stellen so selten, aber um so bewunderungswürdiger ist sie auch dann. Eine durch vorherrschenden Geist geleitete Kühnheit ist der Stempel des Helden, diese Kühnheit besteht nicht im Wagen gegen die Natur der Dinge, in einer plumpen Verletzung des Wahrscheinlichkeitsgesetzes, sondern in der kräftigen Unterstützung jenes höheren Kalküls, den das Genie, der Takt des Urteils in Blitzesschnelle und nur halb bewußt durchlaufen hat, wenn er seine Wahl trifft. Je mehr die Kühnheit den Geist und die Einsicht beflügelt, um so weiter reichen diese mit ihrem Flug, um so umfassender wird der Blick, um so richtiger das Resultat; aber freilich immer nur in dem Sinn, daß mit den größeren Zwecken auch die größeren Gefahren verbunden bleiben. Der gewöhnliche Mensch, um nicht von den schwachen und unentschlossenen zu reden, kommt höchstens bei einer eingebildeten Wirksamkeit auf seinem Zimmer, entfernt von Gefahr und Verantwortlichkeit, zu einem richtigen Resultat, soweit nämlich ein solches ohne lebendige Anschauung möglich ist. Treten ihm aber Gefahr und Verantwortlichkeit überall nahe, so verliert er den Überblick, und bliebe ihm dieser etwa durch den Einfluß anderer, so würde er den Entschluß verlieren, weil da kein anderer aushelfen kann.

So glauben wir denn, daß ohne Kühnheit kein ausgezeichneter Feldherr zu denken ist, d. h. daß ein solcher nie aus einem Menschen werden kann, dem diese Kraft des Gemütes nicht angeboren ist, die wir also als die erste Bedingung einer solchen Laufbahn ansehen. Wieviel von dieser angeborenen, durch die Erziehung und das übrige Leben weiterausgebildeten und modifizierten Kraft übrig bleibt, wenn der Mann die hohe Stelle erreicht hat, ist die zweite Frage. Je größer diese Kraft noch ist, um so stärker ist der Flügelschlag des Genies, um so höher der Flug. Das Wagnis wird immer größer, aber das Ziel wächst mit ihm. Ob die Linien von einer entfernten Notwendigkeit auslaufen und ihre Richtung bekommen oder nach dem Schlußstein eines Gebäudes hinziehen, welches der Ehrgeiz entworfen hat, ob Friedrich oder Alexander handeln, ist für die kritische Betrachtung ziemlich dasselbe. Reizt das letztere mehr die Phantasie, weil es noch kühner ist, so befriedigt das erstere mehr den Verstand, weil es mehr innere Notwendigkeit hat.

Jetzt müssen wir aber noch eines wichtigen Verhältnisses gedenken.

Der Geist der Kühnheit kann in einem Heere zu Hause sein, entweder weil er es im Volke ist oder weil er sich in einem glücklichen Kriege unter kühnen Führern erzeugt hat; in diesem Fall aber wird man ihn im Anfange entbehren.

Nun gibt es in unseren Zeiten kaum ein anderes Mittel, den Geist des Volkes in diesem Sinne zu erziehen, als eben den Krieg, und zwar die kühne Führung desselben. Durch sie allein kann jener Weichlichkeit des Gemütes, jenem Hang nach behaglicher Empfindung entgegengewirkt werden, welche ein in steigendem Wohlstand und in erhöhter Tätigkeit des Verkehrs begriffenes Volk herunterziehen.

Nur wenn Volkscharakter und Kriegsgewohnheit in beständiger Wechselwirkung sich gegenseitig tragen, darf ein Volk hoffen, einen festen Stand in der politischen Welt zu haben.

Siebentes Kapitel: Beharrlichkeit

Von Winkeln und Linien erwartet der Leser zu hören und findet statt dieser Bürger der wissenschaftlichen Welt nur Leute aus dem gemeinen Leben, die er alle Tage auf der Straße begegnet. Und doch kann der Verfasser sich nicht entschließen, ein Haarbreit mathematischer zu werden als ihm sein Gegenstand zu sein scheint, und er scheut nicht die Befremdung, welche ihm sein Leser zeigen könnte.

Im Kriege mehr als irgendwo sonst in der Welt kommen die Dinge anders, als man sich es gedacht hat, und sehen in der Nähe anders aus als in der Entfernung. Mit welcher Ruhe kann der Baumeister sein Werk aufsteigen und in seine Zeichnung hineinwachsen sehen! Der Arzt, obgleich viel mehr unerforschlichen Wirkungen und Zufällen preisgegeben als der Baumeister, kennt doch die Wirkungen und Formen seiner Mittel genau. Im Kriege befindet sich der Führer eines großen Ganzen im beständigen Wellenschlag von falschen und wahren Nachrichten; von Fehlern, die begangen werden aus Furcht, aus Nachlässigkeit, aus Übereilung; von Widerspenstigkeiten, die ihm gezeigt werden aus wahrer oder falscher Ansicht, aus üblem Willen, wahrem oder falschem Pflichtgefühl, Trägheit oder Erschöpfung, von Zufällen, an die kein Mensch gedacht hat. Kurz, er ist hunderttausend Eindrücken preisgegeben, von denen die meisten eine besorgliche, die wenigsten eine ermutigende Tendenz haben. Lange Kriegserfahrung bringt zu dem Takt, den Wert dieser einzelnen Erscheinungen schnell zu würdigen, hoher Mut und innere Stärke widerstehen ihnen, wie der Fels dem Geplätscher der Wellen. Wer diesen Eindrücken nachgeben wollte, würde keine seiner Unternehmungen durchführen, und darum ist die Beharrlichkeit in dem gefaßten Vorsatz, so lange nicht die entschiedensten Gründe dagegen eintreten, ein sehr notwendiges Gegengewicht. - Ferner gibt es im Kriege fast kein ruhmvolles Unternehmen, was nicht mit unendlicher Anstrengung, Mühe und Not zustande gebracht würde, und wenn hier die Schwäche des physischen und geistigen Menschen immer zum Nachgeben bereit ist, so kann wieder nur eine große Willenskraft ans Ziel führen, die sich in einer von Welt und Nachwelt bewunderten Ausdauer kundtut.

Achtes Kapitel: Überlegenheit der Zahl

Sie ist in der Taktik wie in der Strategie das allgemeinste Prinzip des Sieges und soll von uns zuerst in dieser Allgemeinheit betrachtet werden, wozu wir uns folgende Entwicklung erlauben.

Die Strategie bestimmt den Punkt, auf welchem, die Zeit, in welcher, und die Streitkräfte, mit welchen gefochten werden soll; sie hat also durch diese dreifache Bestimmung einen sehr wesentlichen Einfluß auf den Ausgang des Gefechts. Hat die Taktik das Gefecht geliefert, ist der Erfolg da, er mag nun Sieg oder Niederlage sein, so macht die Strategie denjenigen Gebrauch davon, welcher sich nach dem Zweck des Krieges davon machen läßt. Dieser Zweck des Krieges ist natürlich oft ein sehr entfernter und in den seltensten Fällen ein ganz naheliegender. Eine Reihe von anderen Zwecken ordnen sich ihm als Mittel unter. Diese Zwecke, die zugleich Mittel für höhere Zwecke sind, können in der Anwendung mancherlei sein, selbst der letzte Zweck, das Ziel des ganzen Krieges, ist fast in jedem Kriege ein anderes. Wir werden mit diesen Dingen uns bekanntmachen in dem Maße, als wir die einzelnen Gegenstände kennenlernen, die dadurch berührt werden, und es kann nicht unsere Absicht sein, hier durch eine vollständige Aufzählung derselben, wenn sie auch möglich wäre, den ganzen Gegenstand zu umfassen. Wir lassen also die Verwendung des Gefechts vorderhand liegen.

Auch diejenigen Dinge, wodurch die Strategie Einfluß auf den Ausgang des Gefechts hat, indem es dasselbe festsetzt (gewissermaßen dekretiert), sind nicht so einfach, daß man sie mit einer einzigen Betrachtung umfassen könnte. Indem die Strategie Zeit, Ort und Stärke bestimmt, kann sie dies in der Anwendung auf mancherlei Weise tun, wovon jede das Gefecht sowohl seinem Ausgang als seinem Erfolg nach anders bedingt. Also werden wir auch dies erst nach und nach kennenlernen, nämlich bei den Gegenständen, welche die Anwendung näher bestimmen.

Entkleiden wir so das Gefecht von allen Modifikationen, die es nach seiner Bestimmung und den Umständen, aus welchen es hervorgeht, bekommen kann, abstrahieren wir endlich von dem Wert der Truppen, weil dieser ein Gegebenes ist, so bleibt nur der nackte Begriff des Gefechts, d. h. ein formloser Kampf übrig, an dem wir nichts als die Zahl der Kämpfenden unterscheiden.

Diese Zahl wird also den Sieg bestimmen. Schon aus der Menge von Abstraktionen, welche wir haben machen müssen, um auf diesen Punkt zu kommen, ergibt sich, daß die Überlegenheit der Zahl in einem Gefecht nur einer der Faktoren ist, aus welchem der Sieg gebildet wird, daß also, weit entfernt, mit der Überlegenheit der Zahl alles oder auch nur die Hauptsache gewonnen zu haben, vielleicht noch sehr wenig damit erreicht ist, je nachdem die mitwirkenden Umstände so oder anders sind.

Aber die Überlegenheit hat Grade, sie kann doppelt, drei-, viermal so groß gedacht werden usw., und jedermann begreift, daß sie bei dieser Steigerung alles übrige überwältigen muß.

In dieser Beziehung muß man einräumen, daß die Überlegenheit der Zahl der wichtigste Faktor in dem Resultat eines Gefechts ist, nur muß sie groß genug sein, um den übrigen mitwirkenden Umständen das Gleichgewicht zu halten. Die unmittelbare Folge davon ist, daß man die möglichst größte Zahl von Truppen auf den entscheidenden Punkt ins Gefecht bringen müsse.

Mögen diese Truppen dann hinreichen oder nicht, so hat man von dieser Seite alles getan, was die Mittel zuließen. Dies ist der erste Grundsatz in der Strategie. So allgemein wie er hier ausgesprochen ist, würde er ebenso gut für Griechen und Perser oder für Engländer und Mahratten als für Franzosen und Deutsche passen. Aber wir wollen den Blick auf unsere europäischen Kriegsverhältnisse richten, um uns etwas Bestimmteres dabei denken zu können.

Hier sind die Heere in Bewaffung, Einrichtung und Kunstfertigkeit jeder Art einander viel ähnlicher, es besteht nur abwechselnd noch ein Unterschied in kriegerischer Tugend des Heeres und Talent des Feldherrn. Gehen wir die Kriegsgeschichte des neueren Europa durch, so finden wir keine Beispiele von Marathon.

Friedrich der Große schlug bei Leuthen mit etwa 30000 Mann 80000 Österreicher, bei Roßbach mit 25000 Mann einige 50000 Mann Verbündete; das sind aber auch die einzigen Beispiele eines gegen den doppelt und mehr als doppelt so starken Feind errungenen Sieges. Karl XII. in der Schlacht bei Narwa können wir füglich nicht anführen. Die Russen waren damals kaum als Europäer zu betrachten, auch sind selbst die Hauptumstände dieser Schlacht zu wenig bekannt. Bonaparte bei Dresden hatte 120000 gegen 220000, es war also noch nicht das Doppelte. Bei Kolin wollte es Friedrich dem Großen mit 30000 Mann gegen 50000 Österreicher nicht gelingen, und ebenso Bonaparte in der verzweiflungsvollen Leipziger Schlacht, wo er 160000 Mann gegen 280000 stark, die Überlegenheit also lange nicht das Doppelte war.

Es geht hieraus wohl hervor, daß im heutigen Europa es dem talentvollsten Feldherrn sehr schwer ist, einer feindlichen Macht von doppelter Stärke den Sieg abzugewinnen; sehen wir die doppelte Streitkraft gegen die größten Feldherren ein solches Gewicht in die Waagschale legen, so dürfen wir nicht zweifeln, daß in gewöhnlichen Fällen bei großen und kleinen Gefechten eine bedeutende Überlegenheit, die aber doch das Doppelte nicht zu übersteigen braucht, hinreichen wird, den Sieg zu verleihen, wie nachteilig auch die anderen Umstände sein mögen. Freilich kann man sich einen Paß denken, wo auch das Zehnfache zur Überwältigung nicht hinreichen würde; aber in solchem Falle kann von Gefecht überhaupt nicht mehr die Rede sein. Wir glauben also, daß gerade in unseren Verhältnissen sowie in allen ähnlichen die Stärke auf dem entscheidenden Punkt eine große Hauptsache, und daß dieser Gegenstand in der Allgemeinheit der Fälle geradezu unter allen der wichtigste sei. Die Stärke auf dem entscheidenden Punkte hängt von der absoluten Stärke des Heeres und von der Geschicklichkeit der Verwendung ab.

Die erste Regel würde also sein: mit einem Heere so stark als möglich ins Feld zu ziehen. Das klingt sehr nach einem Gemeinspruch und ist doch wirklich keiner.

Um zu beweisen, wie man lange Zeit hindurch die Stärke der Streitkräfte keineswegs für eine Hauptsache angesehen hat, dürfen wir nur bemerken, daß in den meisten, selbst in den ausführlicheren Kriegsgeschichten des achtzehnten Jahrhunderts die Stärke der Heere entweder gar nicht oder nur nebenher angegeben und niemals ein besonderer Wert darauf gelegt wird, Tempelhoff in seiner Geschichte des Siebenjährigen Krieges ist der früheste von den Schriftstellern, der sie regelmäßig, aber dennoch nur sehr oberflächlich angibt.

Selbst Massenbach in seinen mancherlei kritischen Betrachtungen über die preußischen Feldzüge von 1793 und 1794 in den Vogesen spricht viel von Bergen, Tälern, Wegen und Fußstegen, sagt aber nie eine Silbe von der gegenseitigen Stärke.

Ein anderer Beweis liegt in einer wunderbaren Idee, welche in den Köpfen mancher kritischen Schriftsteller spukte, nach der es eine gewisse Größe eines Heeres gab, welches die beste war, eine Normalgröße, über die hinaus die überschießenden Streitkräfte mehr lästig als nützlich wären. *

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* Tempelhoff und Montalembert fallen uns zunächst dabei ein; jener in einer Stelle seines ersten Teiles, Seite 148, dieser in seiner Korrespondenz bei Gelegenheit des russischen Operationsplanes für 1759.

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Endlich gibt es eine Menge von Beispielen, wo nicht alle verwendbaren Streitkräfte in der Schlacht oder im Kriege wirklich verwendet wurden, weil man die Überlegenheit der Zahl nicht von der Wichtigkeit glaubte, die ihr nach der Natur der Sache gebührt.

Ist man von der Überzeugung, daß mit einer beträchtlichen Übermacht alles mögliche zu erzwingen ist, recht durchdrungen, so kann es nicht fehlen, daß diese klare Überzeugung auf die Anstalten zum Kriege zurückwirkt, um mit so viel Kräften, als nur immer möglich, aufzutreten und entweder selbst das Übergewicht zu bekommen, oder sich wenigstens vor einem feindlichen zu verwahren. So viel was die absolute Macht betrifft, mit welcher der Krieg geführt werden soll.

Das Maß dieser absoluten Macht wird von der Regierung bestimmt, und obgleich mit dieser Bestimmung schon die eigentliche kriegerische Tätigkeit beginnt und dieselbe ein ganz wesentlicher, strategischer Teil derselben ist, so muß doch in den meisten Fällen der Feldherr, welcher diese Streitkraft im Kriege führen soll, ihre absolute Stärke als ein Gegebenes betrachten, sei es, daß er keinen Teil an ihrer Bestimmung hatte, oder daß die Umstände verhinderten, ihr eine genügende Ausdehnung zu geben.

Es bleibt also nur übrig, durch eine geschickte Verwendung auch da, wo das absolute Übergewicht nicht zu erreichen war, sich ein relatives auf dem entscheidenden Punkt zu verschaffen.

Als das Wesentlichste hierbei erscheint die Berechnung von Raum und Zeit, und dies hat veranlaßt, daß man in der Strategie diesen Gegenstand als einen den ganzen Gebrauch der Streitkräfte ziemlich umfassenden betrachtet hat. Ja, man ist so weit gegangen, in der Strategie und Taktik großen Feldherren ein eigens dafür geschaffenes inneres Organ beizulegen.

Aber diese Vergleichung von Raum und Zeit, wenn sie auch überall zum Grunde liegt und gewissermaßen das tägliche Brot der Strategie ist, ist doch weder das Schwierigste noch das Entscheidende.

Wenn wir die Kriegsgeschichte mit unbefangenem Blick durchlaufen, so werden wir finden, daß die Fälle, wo wirklich die Fehler in solcher Rechnung die Ursache bedeutender Verluste geworden wären, wenigstens in der Strategie höchst selten sind. Soll aber der Begriff einer geschickten Kombination von Raum und Zeit alle die Fälle repräsentieren, wo ein entschlossener und tätiger Feldherr durch schnelle Märsche mit ein und demselben Heer mehrere seiner Gegner schlug (Friedrich der Große, Bonaparte), so verwirren wir uns unnützerweise in eine konventionelle Sprache. Für die Klarheit und Fruchtbarkeit der Vorstellungen ist es nötig, die Dinge immer bei ihrem rechten Namen zu nennen.

Die richtige Beurteilung ihrer Gegner (Daun, Schwarzenberg), das Wagnis, ihnen eine Zeitlang nur geringe Streitkräfte gegenüberstehen zu lassen, die Energie verstärkter Märsche, die Dreistigkeit schneller Anfälle, die erhöhte Tätigkeit, welche große Seelen im Augenblick der Gefahr gewinnen: das sind die Gründe solcher Siege - und was haben diese mit der Fähigkeit zu tun, zwei so einfache Dinge, wie Raum und Zeit sind, richtig zu vergleichen!

Aber selbst jenes rikoschettierende Spiel der Kräfte, wo die Siege von Roßbach und Montmirail den Schwung geben zu den Siegen von Leuthen und Montereau, und welchen die großen Feldherren in der Verteidigung sich öfter vertraut haben, ist doch, wenn wir klar und genau sein wollen, nur ein seltenes Vorkommen in der Geschichte.

Viel häufiger hat die relative Überlegenheit, d. h. die geschickte Führung überlegener Streitkräfte auf den entscheidenden Punkt, ihren Grund in der richtigen Würdigung dieser Punkte und der treffenden Richtung, welche die Kräfte von Hause aus dadurch erhalten; in der Entschlossenheit, welche erforderlich ist, um das Unwichtige zum Besten des Wichtigen fallen zu lassen, d. h. seine Kräfte in einem überwiegenden Maße vereinigt zu halten. Darin sind namentlich Friedrich der Große und Bonaparte charakteristisch.

Hiermit glauben wir der Überlegenheit in der Zahl die Wichtigkeit wiedergegeben zu haben, die ihr zukommt; sie soll als die Grundidee betrachtet, überall zuerst und nach Möglichkeit gesucht werden.

Sie darum für eine notwendige Bedingung des Sieges zu halten, würde ein völliges Mißverstehen unserer Entwicklung sein; vielmehr liegt in dem Resultat derselben nichts als der Wert, welchen man auf die Stärke der Streitkräfte im Gefecht legen soll. Wird diese Stärke so groß als möglich gemacht, so ist dem Grundsatz genug geschehen, und nur der Blick auf die Gesamtheit der Verhältnisse entscheidet, ob das Gefecht wegen fehlender Streitkräfte vermieden werden darf oder nicht.

Neuntes Kapitel: Die Überraschung

Schon aus dem Gegenstand des vorigen Kapitels, dem allgemeinen Streben nach relativer Überlegenheit, ergibt sich ein anderes Streben, welches folglich ebenso allgemein sein muß: es ist die Überraschung des Feindes. Sie liegt mehr oder weniger allen Unternehmungen zum Grunde, denn ohne sie ist die Überlegenheit auf dem entscheidenden Punkte eigentlich nicht denkbar.

Die Überraschung wird also das Mittel zur Überlegenheit, aber sie ist außerdem auch als ein selbständiges Prinzip anzusehen, nämlich durch ihre geistige Wirkung. Wo sie in einem hohen Grade gelingt, sind Verwirrung, gebrochener Mut beim Gegner die Folgen, und wie diese den Erfolg multiplizieren, davon gibt es große und kleine Beispiele genug. Es ist also hier nicht vom eigentlichen Überfall die Rede, welcher beim Angriff hingehört, sondern von dem Bestreben, mit seinen Maßregeln überhaupt, besonders aber mit der Verteilung der Kräfte den Gegner zu überraschen, welches ebensogut bei der Verteidigung gedacht werden kann und in der taktischen Verteidigung namentlich eine große Hauptsache ist.

Wir sagen: die Überraschung liegt ohne Ausnahme allen Unternehmungen zum Grunde, nur in sehr verschiedenen Graden nach der Natur der Unternehmung und der übrigen Umstände.

Schon bei den Eigenschaften des Heeres, des Feldherrn, ja der Landesregierung fängt dieser Unterschied an.

Geheimnis und Schnelligkeit sind die beiden Faktoren dieses Produktes, und beide setzen bei der Regierung und beim Feldherrn eine große Energie, beim Heere aber einen großen Ernst des Dienstes voraus. Mit Weichlichkeit und laxen Grundsätzen ist es vergeblich, auf Überraschung zu rechnen. Aber so allgemein, ja so unerläßlich dieses Bestreben ist, und so wahr es ist, daß dasselbe nie ganz ohne Wirkung bleiben wird, so ist es doch ebenso wahr, daß es selten in einem ausgezeichneten Grade gelingt, und daß dies in der Natur der Sache liegt. Man würde sich also eine falsche Vorstellung machen, wenn man glaubte, durch dieses Mittel sei hauptsächlich viel im Kriege zu erreichen. In der Idee spricht es uns so sehr an, in der Ausführung bleibt es meistens in der Friktion der ganzen Maschine stecken.

In der Taktik ist die Überraschung vielmehr zu Hause aus der ganz natürlichen Ursache, daß alle Zeiten und Räume kleiner sind. Sie wird also in der Strategie um so tunlicher, als die Maßregeln dem Gebiet der Taktik näherliegen, und um so schwieriger, je höher hinauf gegen das Gebiet der Politik diese liegen.

Die Vorbereitungen zum Kriege nehmen gewöhnlich mehrere Monate ein, die Versammlung der Heere in ihren großen Aufstellungspunkten erfordert meistens die Anlage von Magazinen und Depots und beträchtliche Märsche, deren Richtung sich früh genug erraten läßt.

Es ist daher äußerst selten, daß ein Staat den anderen mit einem Kriege überrascht oder mit der Richtung seiner Kräfte im großen. Im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert, wo der Krieg sich viel um Belagerungen drehte, war ein vielfältiges Bestreben und ein ganz eigenes wichtiges Kapitel in der Kriegskunst, einen festen Platz unvermutet einzuschließen; und auch dies gelang nur selten.

Dagegen ist bei Dingen, die von einem Tag zum anderen geschehen können, die Überraschung viel denkbarer, und so ist es denn auch oft nicht schwer, dem Feinde einen Marsch und dadurch eine Stellung, einen Punkt in der Gegend, einen Weg abzugewinnen usw. Allein es ist klar, daß, was die Überraschung nach dieser Seite hin an Leichtigkeit gewinnt, an ihrer Wirksamkeit verloren geht, sowie diese nach der anderen Richtung hin immer zunimmt. Wer da glaubt, daß sich an solche Überraschung in kleinen Maßregeln oft Großes anknüpfen ließe, z. B. der Gewinn einer Schlacht, die Wegnahme eines bedeutenden Magazins, der glaubt etwas, was allerdings sehr denkbar ist, was aber die Geschichte nicht bewährt, denn es sind im ganzen sehr wenig Beispiele, wo aus solchen Überraschungen Großes hervorgegangen wäre, woraus man wohl ein Recht hat, auf die Schwierigkeit zu schließen, die in der Sache liegen.

Freilich muß, wer die Geschichte in solchen Dingen befragt, sich nicht an gewisse Paradepferde der historischen Kritik, an ihre Sentenzen und selbstgefälligen Terminologien halten, sondern dem Faktum selbst in die Augen sehen. Es gibt z. B. einen gewissen Tag im Feldzuge von 1761 in Schlesien, der in dieser Beziehung eine Art Berühmtheit hat. Es ist der 22. Juli, an welchem Friedrich der Große dem General Laudon den Marsch nach Nossen bei Neisse abgewann, wodurch, wie es heißt, die Vereinigung der österreichischen und russischen Armee in Oberschlesien unmöglich und also für den König ein Zeitraum von vier Wochen gewonnen wurde. Wer dieses Ereignis in den Hauptgeschichtschreibern* umständlich nachliest und unbefangen überlegt, wird in dem Marsch vom 22. Juli diese Bedeutung niemals finden und überhaupt in dem ganzen Räsonnement, welches über diesen Punkt zur Mode geworden ist, nichts als Widersprüche, in den Bewegungen Laudons in dieser berühmten Manöverzeit aber viel Unmotiviertes sehen. Wie könnte man nun bei dem Durst nach Wahrhaftigkeit und klarer Überzeugung solch einen historischen Beweis gelten lassen.

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* Tempelhoff, der Veteran, Friedrich der Große.

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Indem man sich von dem Prinzip der Überraschung im Laufe eines Feldzuges große Wirkungen verspricht, denkt man an eine sehr große Tätigkeit, schnelle Entschlüsse, starke Märsche, welche dazu die Mittel geben sollen; daß aber diese Dinge, auch da, wo sie in einem hohen Grade vorhanden sind, nicht immer die beabsichtigte Wirkung hervorbringen, sehen wir an Beispielen zweier Feldherren, die wohl dafür gelten können, die größte Virtuosität darin gehabt zu haben, Friedrich des Großen und Bonapartes. Der erstere, als er im Juli 1760 so urplötzlich von Bautzen aus auf Lacy fiel und sich gegen Dresden wandte, erreichte mit diesem ganzen Intermezzo eigentlich nichts, vielmehr wurden seine Angelegenheiten dadurch merklich verschlimmert, indem Glatz unterdessen fiel.

Bonaparte wandte sich im Jahr 1813 von Dresden aus zweimal urplötzlich gegen Blücher, von seinem Einfall aus der Oberlausitz nach Böhmen hinein gar nicht einmal zu sprechen, und beide Male ganz ohne die beabsichtigte Wirkung. Es wurden Lufthiebe, welche ihm nur Zeit und Kräfte kosteten und bei Dresden hätten höchst gefährlich werden können.

Eine Überraschung mit großem Erfolg geht also auch in diesem Gebiet nicht aus der bloßen Tätigkeit, Kraft und Entschlossenheit der Führung hervor, sie muß durch andere Umstände begünstigt werden. Wir wollen aber diesen Erfolg keineswegs leugnen, sondern ihn nur an die Notwendigkeit günstiger Bedingungen anknüpfen, die sich dann freilich nicht so häufig finden, und die der Handelnde selten hervorbringen kann.

Eben jene Feldherren geben jeder ein auffallendes Beispiel davon, Bonaparte in seiner berühmten Unternehmung auf Blüchers Heer 1814, als dasselbe, vom großen Heere getrennt, die Marne hinunterzog. Nicht leicht konnte ein überraschender Marsch von zwei Tagen größere Resultate geben. Blüchers Heer, auf drei Tagemärsche ausgedehnt, wurde einzeln geschlagen und erlitt einen Verlust, welcher einer verlorenen Hauptschlacht gleichkam. Es war lediglich die Wirkung der Überraschung, denn Blücher würde, wenn er an eine so nahe Möglichkeit eines Anfalls Bonapartes geglaubt hätte, seinen Marsch ganz anders eingerichtet haben. An diesen Fehler Blüchers knüpfte sich der Erfolg an. Bonaparte kannte diese Umstände allerdings nicht, und so war es für ihn glücklicher Zufall, welcher sich einmischte.

Ebenso ist es mit der Schlacht von Liegnitz 1760. Friedrich der Große gewann diese schöne Schlacht, weil er in der Nacht seine Stellung, die er eben erst bezogen hatte, schon wieder veränderte; dadurch wurde Laudon völlig überrascht, und der Erfolg war ein Verlust von 70 Kanonen und 10000 Mann. Obgleich Friedrich der Große in dieser Zeit den Grundsatz angenommen hatte, sich viel hin und her zu bewegen, um dadurch eine Schlacht unmöglich zu machen oder wenigstens des Feindes Pläne zu verrücken, so war doch die Veränderung der Stellung in der Nacht vom 14. zum 15. nicht gerade in der Absicht gemacht, sondern, wie der König selbst sagt, weil ihm die Stellung vom 14. nicht gefiel. Es war also auch hier der Zufall stark im Spiel. Ohne das Zusammentreffen des Angriffs mit der nächtlichen Veränderung und der unzugänglichen Gegend wäre der Erfolg nicht derselbe gewesen.

Auch im höheren und höchsten Gebiet der Strategie gibt es einige Beispiele folgenreicher Überraschungen, wir wollen nur an die glänzenden Züge des großen Kurfürsten gegen die Schweden von Franken bis Pommern und von der Mark bis an den Pregel, an den Feldzug von 1757 und den berühmten Übergang Bonapartes über die Alpen 1800 erinnern. Hier überlieferte ein Heer in einer Kapitulation sein ganzes Kriegstheater, und wenig fehlte 1757, daß ein anderes sein Kriegstheater und sich selbst ausgeliefert hätte. Endlich kann man für den Fall eines ganz unerwarteten Krieges Friedrichs des Großen Einfall in Schlesien anführen. Groß und gewaltig sind hier überall die Erfolge. Aber solche Erscheinungen gibt es sehr wenige in der Geschichte, wenn man nämlich nicht die Fälle damit verwechselt, wo ein Staat aus Mangel an Tätigkeit und Energie (1756 Sachsen und 1812 Rußland) mit seinen Anstalten nicht fertig wird.

Jetzt ist noch eine Bemerkung zurück, welche das Innere der Sache betrifft. Es kann nämlich nur derjenige überraschen, welcher dem anderen das Gesetz gibt; das Gesetz gibt, wer im Recht ist. Wenn wir den Gegner mit einer verkehrten Maßregel überraschen, so werden wir statt der guten Folgen vielleicht einen derben Rückschlag zu ertragen haben; in jedem Fall braucht der Gegner sich um unsere Überraschung wenig zu kümmern, er findet in unserem Fehler die Mittel, das Übel abzuwenden. Da der Angriff viel mehr positive Handlungen in sich schließt als die Verteidigung, so ist auch das Überraschen allerdings mehr in der Stelle des Angreifenden, aber keineswegs ausschließlich, wie wir das in der Folge sehen werden. Es können sich also die gegenseitigen Überraschungen des Angreifenden und des Verteidigers begegnen, und dann müßte derjenige recht behalten, welcher den Nagel am besten auf dem Kopf getroffen hat. So sollte es sein; es hält aber das praktische Leben diese Linie auch nicht so genau, und zwar aus einer einfachen Ursache. Die geistigen Wirkungen, welche die Überraschung mit sich führt, machen für denjenigen, welcher sich ihres Beistandes erfreut, oft die schlechteste Sache zu einer guten und lassen den anderen nicht zu einem ordentlichen Entschluß kommen; wir haben hier mehr als irgendwo nicht bloß die ersten Führer im Sinn, sondern jeden einzelnen, weil die Wirkung der Überraschung das Eigentümliche hat, das Band der Einheit gewaltig aufzulockern, so daß leicht jede einzelne Individualität dabei zum Vorschein kommt.

Viel hängt hier von dem allgemeinen Verhältnis ab, in welchem beide Teile zueinanderstehen. Ist der eine schon durch ein allgemeines moralisches Übergewicht zum Entmutigen und Überschnellen des anderen befähigt, so wird er sich der Überraschung mit mehr Erfolg bedienen können und selbst da gute Früchte ernten, wo er eigentlich zuschanden werden sollte.

Zehntes Kapitel: Die List

List setzt eine versteckte Absicht voraus und steht also der geraden, schlichten, das ist unmittelbaren Handlungsweise entgegen, so wie der Witz dem unmittelbaren Beweise entgegensteht. Mit den Mitteln der Überredung, des Interesses, der Gewalt hat sie daher nichts gemein, aber viel mit dem Betruge, weil dieser seine Absicht gleichfalls versteckt. Sie ist sogar selbst ein Betrug, wenn das Ganze fertig ist, aber sie unterscheidet sich doch von dem, was schlechthin so genannt wird, und zwar dadurch, daß sie nicht unmittelbar wortbrüchig wird. Der Listige läßt denjenigen, welchen er betrügen will, die Irrtümer des Verstandes selbst begehen, die zuletzt in eine Wirkung zusammenfließend, plötzlich das Wesen des Dinges vor seinen Augen verändern. Daher kann man sagen: wie der Witz eine Taschenspielerei mit Ideen und Vorstellungen ist, so ist die List eine Taschenspielerei mit Handlungen.

Auf den ersten Blick scheint es nicht mit Unrecht zu sein, daß die Strategie ihren Namen von der List bekommen, und daß bei allen wahren und scheinbaren Veränderungen, welche der große Zusammenhang des Krieges seit den Griechen erlitten hat, dieser Name doch noch auf ihr eigentlichstes Wesen deute.

Wenn man die Ausführung der Gewaltstreiche, die Gefechte selbst, der Taktik überläßt und die Strategie als die Kunst betrachtet, sich des Vermögens dazu mit Geschick zu bedienen, so scheint außer den Kräften des Gemütes, als da sind ein glühender Ehrgeiz, der wie eine Feder immer drückt, ein starker Wille, der schwer weicht usw., keine subjektive Naturanlage so geeignet, die strategische Tätigkeit zu leiten und zu beleben, als die List. Schon das allgemeine Bedürfnis zu überraschen, wovon wir im vorigen Kapitel gesprochen haben, weist darauf hin; denn jedem Überraschen liegt ein wenn auch noch so geringer Grad von List zum Grunde.

Aber so sehr man gewissermaßen das Bedürfnis fühlt, die Handelnden im Kriege an verschlagener Tätigkeit, Gewandtheit und List sich einander überbieten zu sehen, so muß man doch gestehen, daß diese Eigenschaften sich in der Geschichte wenig zeigen und selten aus der Masse der Verhältnisse und Umstände sich haben hervorarbeiten können.

Der Grund davon liegt nahe genug und läuft mit dem Gegenstande des vorigen Kapitels ziemlich auf eins hinaus.

Die Strategie kennt keine andere Tätigkeit als die Anordnung der Gefechte mit den Maßregeln, die sich darauf beziehen. Sie kennt nicht, wie das übrige Leben, Handlungen, die in bloßen Worten, d. h. in Äußerungen, Erklärungen usw. bestehen. Diese, die nicht viel kosten, sind es aber vorzüglich, womit der Listige hinters Licht führt.

Das, was es im Kriege Ähnliches gibt: Entwürfe und Befehle bloß zum Schein gegeben, falsche Nachrichten dem Feinde absichtlich hinterbracht usw., ist für das strategische Feld gewöhnlich von so schwacher Wirkung, daß es nur bei einzelnen, sich von selbst darbietenden Gelegenheiten gebraucht, also nicht als eine freie Tätigkeit, die von dem Handelnden ausgeht, betrachtet werden kann.

Solche Handlungen aber, wie die Anordnung von Gefechten, soweit durchzuführen, daß sie dem Feinde einen Eindruck machen, erfordert schon einen beträchtlichen Aufwand von Zeit und Kräften, und zwar um so mehr, je größer der Gegenstand ist. Weil man diese gewöhnlich nicht daran geben will, darum sind die wenigsten der sogenannten Demonstrationen in der Strategie von der beabsichtigten Wirkung. In der Tat ist es gefährlich, bedeutende Kräfte auf längere Zeit zum bloßen Schein zu verwenden, weil immer die Gefahr bleibt, daß es umsonst geschieht und man diese Kräfte dann am entscheidenden Ort entbehrt.

Diese nüchterne Wahrheit fühlt der Handelnde im Kriege immer durch, und darum vergeht ihm die Lust zu dem Spiel schlauer Beweglichkeit. Der trockene Ernst der Notwendigkeit drängt meist so in das unmittelbare Handeln hinein, daß für jenes Spiel kein Raum bleibt. Mit einem Wort: es fehlt den Steinen im strategischen Schachbrett die Beweglichkeit, welche das Element der List und Verschlagenheit ist.

Die Folgerung, welche wir ziehen, ist: daß ein richtiger treffender Blick eine notwendigere und nützlichere Eigenschaft des Feldherrn ist als die List, wiewohl diese auch nichts verdirbt, wenn sie nicht auf Unkosten notwendiger Gemütseigenschaften besteht, welches freilich nur zu oft der Fall ist.

Je schwächer aber die Kräfte werden, welche der strategischen Führung unterworfen Bind, um so zugänglicher wird diese der List sein, so daß dem ganz Schwachen und Kleinen, für den keine Vorsicht, keine Weisheit mehr ausreicht, auf dem Punkt, wo ihn alle Kunst zu verlassen scheint, die List sich als die letzte Hilfe desselben anbietet. Je hilfloser seine Lage ist, je mehr sich alles in einen einzigen verweiflungsvollen Schlag zusammendrängt, um so williger tritt die List seiner Kühnheit zur Seite. Von alter weiteren Berechnung loslassend, von alter späteren Entgeltung befreit, dürfen Kühnheit und List einander steigern und so einen unmerklichen Hoffnungsschimmer auf einen einzigen Punkt vereinigen, zu einem einzigen Strahl, der allenfalls noch zu zünden vermag.

Elftes Kapitel: Sammlung der Kräfte im Raum

Die beste Strategie ist: immer recht stark zu sein, zuerst überhaupt und demnächst auf dem entscheidenden Punkt. Daher gibt es außer der Anstrengung, welche die Kräfte schafft, und die nicht immer vom Feldherrn ausgeht, kein höheres und einfacheres Gesetz für die Strategie als das: seine Kräfte zusammenzuhalten. - Nichts soll von der Hauptmasse getrennt sein, was nicht durch einen dringenden Zweck davon abgerufen wird. An dies Kriterium halten wir fest und sehen es als einen zuverlässigen Führer an. Welches die vernünftigen Ursachen einer Teilung der Kräfte sein können, werden wir nach und nach kennenlernen. Dann werden wir auch sehen, daß dieser Grundsatz nicht in jedem Kriege dieselben allgemeinen Folgen haben könne, sondern daß sich diese nach Zweck und Mittel verändern.

Es klingt unglaublich und ist doch hundertmal vorgekommen, daß die Streitkräfte geteilt und getrennt worden sind bloß nach dem dunklen Gefühl herkömmlicher Manier, ohne deutlich zu wissen, warum.

Erkennt man die Vereinigung der ganzen Streitkräfte als die Norm an und jede Trennung und Teilung als eine Abweichung, die motiviert sein muß, so wird nicht nur jene Torheit ganz vermieden, sondern auch manchem falschen Teilungsgrund der Zutritt versperrt.

Zwölftes Kapitel: Vereinigung der Kräfte in der Zeit

Wir haben es hier mit einem Begriff zu tun, der da, wo er ins tätige Leben ausläuft, mancherlei trügerischen Schein verbreitet; eine klare Feststellung und Durchführung der Vorstellungen ist uns daher Bedürfnis, und so hoffen wir, man wird uns abermals eine kleine Analyse erlauben.

Der Krieg ist ein Stoß entgegengesetzter Kräfte aufeinander, woraus von selbst folgt, daß die stärkere die andere nicht bloß vernichtet, sondern in ihrer Bewegung mit fortreißt. Dies läßt im Grunde keine nachhaltige (sukzessive) Wirkung der Kräfte zu, sondern es muß die gleichzeitige Anwendung alter für einen Stoß bestimmten Kräfte als ein Urgesetz des Krieges erscheinen.

So ist es auch wirklich, aber nur soweit, als der Kampf auch wirklich dem mechanischen Stoße gleicht; wo aber derselbe in einer dauernden gegenseitigen Einwirkung vernichtender Kräfte besteht, da kann allerdings eine nachhaltige Wirkung der Kräfte gedacht werden. Dies ist in der Taktik der Fall, hauptsächlich weil das Feuergewehr die Hauptgrundlage alter Taktik ist, aber auch aus anderen Gründen. Wenn im Feuergefecht 1000 Mann gegen 500 gebraucht werden, so ist die Größe ihres Verlustes zusammengesetzt aus der Größe der feindlichen Kräfte und der eigenen. Tausend schießen noch einmal soviel als 500; gegen 1000 aber treffen auch mehr Kugeln als gegen 500, weil doch vorauszusetzen ist, daß sie dichter stehen als jene. Dürften wir annehmen, daß auch die Anzahl der treffenden Kugeln bei ihnen doppelt so groß wäre, so würde der Verlust von beiden Seiten gleich sein. Von den 500 würden z. B. 200 außer Gefecht sein und von den 1000 gleichfalls. Hätten nun jene 500 ebensoviel hinter sich, die bis dahin ganz außer dem Feuer gehalten wurden, so würden beide Teile 800 Mann gesund haben, davon aber der eine 500 Mann ganz frisch mit voller Munition und mit vollen Kräften hätte, der andere aber nur 800 Mann, die alle im gleichen Maße aufgelöst, ohne hinlängliche Munition und in geschwächter Kraft sind. Die Voraussetzung, daß die 1000 Mann bloß wegen ihrer größeren Zahl auch doppelt soviel verlieren sollten, als 500 an ihrer Stelle verloren haben würden, ist allerdings nicht richtig, es muß also bei jener ursprünglichen Ordnung der größere Verlust, welchen der erleidet, der die Hälfte seiner Kraft zurückgestellt hat, als ein Nachteil angesehen werden; ebenso muß in der Allgemeinheit der Fälle eingeräumt werden, daß den 1000 Mann im ersten Augenblick der Vorteil werden kann, ihre Gegner aus ihrem Standpunkt zu vertreiben und in eine rückgängige Bewegung zu bringen; ob nun diese beiden Vorteile dem Nachteile das Gleichgewicht halten, sich mit 800 Mann durch das Gefecht aufgelöster Truppen gegen einen Feind zu befinden, der wenigstens nicht merklich schwächer ist und 500 Mann ganz frischer Truppen hat, das kann eine weiter getriebene Analyse nicht mehr entscheiden, sondern man muß hier auf die Erfahrung sich stützen; und da wird es wohl keinen Offizier von einiger Kriegserfahrung geben, welcher nicht in der Allgemeinheit der Fälle das Übergewicht demjenigen zuschreiben wird, der die frischen Kräfte hat.

Auf diese Weise wird es klar, wie die Anwendung zu großer Kräfte im Gefechte nachteilig werden kann, denn wie viele Vorteile uns auch die Überlegenheit im ersten Augenblick geben mag, vielleicht müssen wir im nächsten dafür büßen.

Diese Gefahr reicht aber nur soweit, als die Unordnung, der Zustand der Auflösung und Schwächung reicht, mit einem Wort, die Krise, welche jedes Gefecht auch beim Sieger mit sich bringt. In dem Bereich dieses geschwächten Zustandes ist die Erscheinung einer verhältnismäßigen frischen Anzahl Truppen entscheidend.

Wo aber diese auflösende Wirkung des Sieges aufhört, und also nur die moralische Überlegenheit bleibt, die jeder Sieg gibt, da ist die frische Kraft nicht mehr imstande, das Verlorene gutzumachen, da wird sie mit fortgerissen. Ein geschlagenes Heer kann Tages darauf nicht mehr durch eine starke Reserve zum Sieg zurückgeführt werden. Hier befinden wir uns an der Quelle eines höchst wesentlichen Unterschiedes zwischen Taktik und Strategie.

Es liegen nämlich die taktischen Erfolge, die Erfolge innerhalb des Gefechts und vor seinem Schluß, größtenteils noch in dem Bereich jener Auflösung und Schwächung; die strategischen aber, d. h. der Erfolg des Totalgefechts, der fertige Sieg, groß oder klein, wie er auch sei, liegt schon außerhalb dieses Bereichs. Erst wenn die Erfolge der Teilgefechte sich zu einem selbständigen Ganzen verbunden haben, tritt der strategische Erfolg ein, dann hört aber der Zustand der Krise auf, die Kräfte gewinnen ihre ursprüngliche Gestalt wieder und sind nur um den Teil geschwächt, der wirklich vernichtet worden ist.

Die Folge dieses Unterschiedes ist, daß die Taktik eines nachhaltigen Gebrauchs der Kräfte fähig ist und die Strategie nur eines gleichzeitigen.

Kann ich in der Taktik nicht mit dem ersten Erfolg alles entscheiden, muß ich den nächsten Augenblick fürchten, so folgt von selbst, daß ich für den Erfolg des ersten Augenblicks nur soviel Kräfte verwende, als dazu nötig scheinen, und die übrigen aus der Vernichtungssphäre sowohl des Feuers als des Faustkampfes entfernt halte, um frischen Kräften frische entgegenzustellen oder mit solchen geschwächte überwinden zu können. So ist es aber nicht in der Strategie. Teils hat sie, wie wir eben gezeigt haben, nachdem ihr Erfolg eingetreten ist, nicht so leicht eine Rückwirkung zu befürchten, weil mit diesem Erfolg die Krise aufhört, teils werden nicht notwendig alle Kräfte, die strategisch sind, geschwächt. Nur was mit der feindlichen Kraft taktisch im Konflikt, d. h. im Teilgefecht begriffen ist, wird durch sie geschwächt, also, wenn die Taktik nicht unnütz verschwendet, nur so viel, als unvermeidlich ist, keineswegs aber alles, was strategisch damit im Konflikt ist. Korps, welche wegen Überlegenheit der Kräfte wenig oder gar nicht gefochten und durch ihre bloße Gegenwart mit entschieden haben, sind nach der Entscheidung, was sie vorher waren, und für neue Zwecke ebenso brauchbar, als wenn sie müßig gewesen wären. Wie sehr aber solche die Übermacht gebenden Korps zum Totalerfolge beitragen können, ist an sich klar; ja selbst das ist nicht schwer einzusehen, wie sie selbst den Verlust der im taktischen Konflikt begriffenen Kräfte unsererseits beträchtlich verringern können.

Wächst also in der Strategie der Verlust nicht mit dem Umfang der gebrauchten Kräfte, wird er sogar dadurch oft verringert, und ist, wie sich von selbst versteht, die Entscheidung dadurch mehr für uns gesichert, so folgt von selbst, daß man niemals zu viel Kräfte anwenden könne, und folglich auch, daß die zur Verwendung vorhandenen gleichzeitig angewendet werden müssen.

Aber wir müssen den Satz noch auf einem anderen Felde durchkämpfen. Wir haben bis jetzt nur vom Kampfe selbst gesprochen; er ist die eigentliche kriegerische Tätigkeit, aber Menschen, Zeit und Raum, welche als die Träger dieser Tätigkeit erscheinen, müssen dabei berücksichtigt und die Produkte ihrer Einwirkungen in die Betrachtung mit aufgenommen werden.

Mühen, Anstrengungen und Entbehrungen sind im Kriege ein eigenes, nicht wesentlich zum Kampf gehöriges, aber mehr oder weniger unzertrennlich mit ihm verbundenes Vernichtungsprinzip, und zwar eins, was der Strategie vorzugsweise angehört. Sie finden zwar in der Taktik auch statt und vielleicht da im höchsten Grade, aber da die taktischen Akte von weniger Dauer sind, so können die Wirkungen von Anstrengungen und Entbehrungen in ihnen auch wenig in Betrachtung kommen. Aber in der Strategie, wo Zeiten und Räume größer sind, wird die Wirkung nicht nur stets merklich, sondern oft ganz entscheidend. Es ist nicht ungewöhnlich, daß ein siegreiches Heer viel mehr an Krankheiten als in Gefechten verliert.

Betrachten wir also diese Vernichtungssphäre in der Strategie, wie wir die des Feuers und des Faustkampfes in der Taktik betrachtet haben, so können wir uns allerdings vorstellen, daß alles, was ihr ausgesetzt ist, am Ende des Feldzuges oder eines anderen strategischen Abschnittes in einen Zustand der Schwächung gerät, welche eine neu erscheinende frische Kraft entscheidend macht. Man könnte also hier wie dort veranlaßt werden, den ersten Erfolg mit so wenigem als möglich zu suchen, um diese frische Kraft für das Ende sich aufzubewahren.

Um diesen Gedanken, welcher in zahlreichen Fällen der Anwendung einen großen Schein von Wahrheit haben wird, genau zu würdigen, müssen wir den Blick auf die einzelnen Vorstellungen desselben richten. Zuerst muß man den Begriff der bloßen Verstärkung nicht mit einer frischen, unabgenutzten Kraft verwechseln. Es gibt wenig Feldzüge, an deren Schluß nicht dem Sieger wie dem Besiegten ein neuer Zuwachs der Kräfte höchst erwünscht, ja entscheidend erscheinen sollte; aber davon ist hier nicht die Rede, denn dieser Zuwachs an Kräften würde nicht nötig sein, wenn diese gleich anfangs so viel größer gewesen wären. Daß aber ein frisch ins Feld rückendes Heer seinem moralischen Werte nach besser zu achten wäre als das schon im Felde stehende, so wie eine taktische Reserve allerdings besser zu achten ist als eine Truppe, die schon viel im Gefecht gelitten hat, das wäre gegen alle Erfahrung. Ebenso viel wie ein unglücklicher Feldzug den Truppen an Mut und moralischer Kraft nimmt, ebenso viel erhöht ein glücklicher ihren Wert von dieser Seite, so daß sich diese Wirkungen in der Allgemeinheit der Fälle ausgleichen, und dann noch die Kriegsgewohnheit als ein reiner Gewinn übrig bleibt. Überdem muß hier der Blick mehr auf die glücklichen als auf die unglücklichen Feldzüge gerichtet sein, weil da, wo der letztere sich mit mehr Wahrscheinlichkeit vorhersehen läßt, ohnehin die Kräfte fehlen, und an eine Zurückstellung eines Teiles derselben zum späteren Gebrauch nicht zu denken ist.

Ist dieser Punkt beseitigt, so fragt es sich: wachsen die Verluste, welche eine Streitkraft durch Anstrengungen und Entbehrungen erleidet, ebenso wie ihr Umfang, wie das im Gefecht der Fall ist? Und darauf muß man »nein« antworten.

Die Anstrengungen entstehen größtenteils aus den Gefahren, womit jeder Augenblick des kriegerischen Aktes mehr oder weniger durchdrungen ist. Diesen Gefahren überall zu begegnen, in seinem Handeln mit Sicherheit fortzuschreiten, das ist der Gegenstand einer großen Menge von Tätigkeiten, welche den taktischen und strategischen Dienst des Heeres ausmachen. Dieser Dienst wird schwieriger, je schwächer das Heer ist, und leichter, je mehr seine Überlegenheit gegen das feindliche zunimmt. Wer kann das bezweifeln? Ein Feldzug gegen einen viel schwächeren Feind wird also auch geringere Anstrengungen kosten als gegen einen ebenso starken oder gar stärkeren.

Das sind die Anstrengungen. Etwas anders sieht es mit den Entbehrungen aus. Diese bestehen hauptsächlich in zwei Gegenständen: dem Mangel an Lebensmitteln und dem Mangel beim Unterkommen der Truppen, sei es im Quartiere oder in bequemen Lagern. Beide werden allerdings um so größer, je zahlreicher das Heer auf demselben Fleck ist. Allein gibt denn nicht gerade die Übermacht auch die besten Mittel, sich auszubreiten und mehr Raum, also auch mehr Mittel des Unterhaltes und des Unterkommens zu finden?

Wenn Bonaparte im Jahr 1812 beim Vordringen in Rußland sein Heer auf eine unerhörte Weise zu großen Massen auf einer Straße vereinigt und dadurch einen ebenso unerhörten Mangel veranlaßt hat, so muß man das seinem Grundsatz zuschreiben: nie stark genug auf dem entscheidenden Punkt sein zu können. Ob er diesen Grundsatz hier übertrieben hat oder nicht, ist eine Frage, die nicht hierher gehört, aber gewiß ist es, daß, wenn er dem dadurch hervorgerufenen Mangel hätte aus dem Wege gehen wollen, er nur in einer größeren Breite vorzugehen brauchte; es fehlte dazu in Rußland nicht an Raum und wird in den wenigsten Fällen daran fehlen. Es kann also hieraus kein Grund hergeleitet werden, um zu beweisen, daß die gleichzeitige Anwendung sehr überlegener Kräfte eine größere Schwächung hervorbringen mußte. Gesetzt nun aber, Wind und Wetter und die unvermeidlichen Anstrengungen des Krieges hätten auch an dem Teil des Heeres, welchen man als eine überschießende Macht allenfalls für einen späteren Gebrauch hätte aufbewahren können, trotz der Erleichterungen, welcher dieser Teil dem Ganzen verschaffte, doch eine Verminderung bewirkt, so muß man doch nun erst alles wieder mit einem Gesamtblick im Zusammenhange auffassen und also fragen: wird diese Verminderung so viel betragen als der Gewinn an Kräften, welchen wir durch unsere Übermacht auf mehr als einem Wege machen können?

Aber es gibt noch einen sehr wichtigen Punkt zu berühren. In dem Teilgefecht kann man ohne große Schwierigkeit die Kraft ungefähr bestimmen, welche zu einem größeren Erfolg, den man sich vorgesetzt hat, nötig ist, und folglich auch bestimmen, was überflüssig sein würde. In der Strategie ist dies so gut wie unmöglich, weil der strategische Erfolg keinen so bestimmten Gegenstand und keine so nahen Grenzen hat. Was also in der Taktik als ein Überfluß von Kräften angesehen werden kann, muß in der Strategie als ein Mittel betrachtet werden, den Erfolg zu erweitern, wenn sich die Gelegenheit dazu darbietet; mit der Größe des Erfolges aber wachsen die Prozente des Gewinnes, und das Übergewicht der Kräfte kann auf diese Weise schnell zu einem Punkte kommen, welchen die sorgfältigste Ökonomie der Kräfte nie gegeben haben würde.

Vermittelst seiner ungeheuren Überlegenheit gelang es Bonaparte im Jahre 1812 bis Moskau vorzudringen und diese Zentralhauptstadt einzunehmen; wäre es ihm auch vermittelst eben dieser Übermacht noch gelungen, das russische Heer vollkommen zu zertrümmern, so würde er wahrscheinlich einen Frieden in Moskau geschlossen haben, der auf jede andere Weise weniger erreichbar war. Dies Beispiel soll den Gedanken nur erklären, nicht beweisen, welches einer umständlichen Entwicklung bedürfte, wozu hier nicht der Ort ist.

Alle diese Betrachtungen sind bloß auf den Gedanken einer sukzessiven Kraftanwendung gerichtet und nicht auf den eigentlichen Begriff einer Reserve, welchen sie zwar unaufhörlich berühren, der aber, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden, noch mit anderen Vorstellungen zusammenhängt.

Was wir hier ausmachen wollten, ist, daß, wenn in der Taktik die Streitkraft schon durch die bloße Dauer der wirklichen Anwendung eine Schwächung erleidet, die Zeit also als ein Faktor in dem Produkt erscheint, dies in der Strategie nicht auf eine wesentliche Art der Fall ist. Die zerstörenden Wirkungen, welche die Zeit auf die Streitkräfte auch in der Strategie übt, werden durch die Masse derselben teils vermindert, teils auf andere Weise eingebracht, und es kann daher in der Strategie nicht die Absicht sein, die Zeit um ihrer selbst willen zu seinem Verbündeten zu machen, indem man die Kräfte nach und nach zur Anwendung bringt.

Wir sagen um ihrer selbst willen, denn der Wert, welchen die Zeit wegen anderer Umstände, die sie herbeiführt, die aber von ihr selbst verschieden sind, für den einen der beiden Teile haben kann, ja notwendig haben muß, ist etwas ganz anderes, ist nichts weniger als gleichgültig oder unwichtig und wird der Gegenstand anderer Betrachtung sein.

Das Gesetz, welches wir zu entwickeln versuchten, ist also: Alle Kräfte, welche für einen strategischen Zweck bestimmt und vorhanden sind, sollen gleichzeitig darauf verwendet werden, und diese Verwendung wird um so vollkommener sein, je mehr alles in einen Akt und in einen Moment zusammengedrängt wird.

Es gibt aber darum doch einen Nachdruck und eine nachhaltige Wirkung in der Strategie, und wir können sie um so weniger übersehen, als sie ein Hauptmittel des endlichen Erfolges ist, nämlich die fortdauernde Entwicklung neuer Kräfte. Auch dies ist der Gegenstand eines anderen Kapitels, und wir nennen ihn bloß, um zu verhüten, daß der Leser nicht etwas im Auge habe, wovon wir gar nicht sprechen.

Wir wenden uns nun zu einem mit unseren bisherigen Betrachtungen sehr nahe verwandten Gegenstand, durch dessen Feststellung dem Ganzen erst sein volles Licht gegeben werden kann, wir meinen die strategische Reserve.

Dreizehntes Kapitel: Strategische Reserve

Eine Reserve hat zwei Bestimmungen, die sich wohl voneinander unterscheiden lassen, nämlich: erstens, die Verlängerung und Erneuerung des Kampfes, und zweitens, der Gebrauch gegen unvorhergesehene Fälle. Die erste Bestimmung setzt den Nutzen einer sukzessiven Kraftanwendung voraus und kann deshalb in der Strategie nicht vorkommen. Die Fälle, wo ein Korps nach einem Punkt hingeschickt wird, der im Begriff ist, überwältigt zu werden, sind offenbar in die Kategorie der zweiten Bestimmung zu setzen, weil der Widerstand, welchen man hier zu leisten hat, nicht hinlänglich vorhergesehen worden ist. Ein Korps aber, was zur bloßen Verlängerung des Kampfes bestimmt und zu dem Behuf zurückgestellt ist, würde nur außer dem Bereich des Feuers gestellt, dem im Gefecht Befehlenden untergeordnet und zugewiesen, mithin eine taktische und keine strategische Reserve sein.

Das Bedürfnis aber, eine Kraft für unvorhergesehene Fälle bereit zu haben, kann auch in der Strategie vorkommen, und folglich kann es auch strategische Reserve geben: aber nur da, wo unvorhergesehene Fälle denkbar sind. In der Taktik, wo man die Maßregeln des Feindes meistens erst durch den Augenschein kennenlernt, und wo jedes Gehölz und jede Falte eines wellenförmigen Bodens dieselben verbergen kann, muß man natürlich immer mehr oder weniger auf unvorhergesehene Fälle gefaßt sein, um diejenigen Punkte unseres Ganzen, welche sich zu schwach zeigen, hinterher zu verstärken und überhaupt die Anordnung unserer Kräfte mehr nach Maßgabe der feindlichen einrichten zu können.

Auch in der Strategie müssen solche Fälle vorkommen, weil der strategische Akt unmittelbar an den taktischen anknüpft. Auch in der Strategie wird manche Anordnung erst nach dem Augenschein, nach ungewissen, von einem Tage zum anderen, von einer Stunde zur anderen eingehenden Nachrichten, endlich nach den wirklichen Erfolgen der Gefechte getroffen; es ist also eine wesentliche Bedingung der strategischen Führung, daß nach Maßgabe der Ungewißheit Streitkräfte zur späteren Verwendung zurückgehalten werden.

Bei der Verteidigung überhaupt, besonders aber gewisser Bodenabschnitte, wie Flüsse, Gebirge usw. kommt dies bekanntlich unaufhörlich vor.

Aber diese Ungewißheit nimmt ab, je weiter sich die strategische Tätigkeit von der taktischen entfernt und hört fast ganz auf in jenen Regionen derselben, wo sie an die Politik grenzt.

Wohin der Feind seine Kolonnen zur Schlacht führt, kann man nur aus dem Augenschein erkennen; wo er einen Fluß überschreiten wird, aus wenigen Anstalten, die sich kurz vorher kundtun; auf welcher Seite er unser Reich anfallen werde, das verkünden gewöhnlich schon alle Zeitungen, ehe noch ein Pistolenschuß fällt. Je größerer Art die Maßnahmen werden, um so weniger kann man damit überraschen. Zeiten und Räume sind so groß, die Verhältnisse, aus welchen die Handlung hervorgeht, so bekannt und wenig veränderlich, daß man das Ergebnis entweder zeitig genug erfährt oder mit Gewißheit erforschen kann.

Von der anderen Seite wird auch der Gebrauch einer Reserve, wenn sie wirklich vorhanden wäre, in diesem Gebiete der Strategie immer unwirksamer, je weiter die Maßregel das Ganze hinaufrückt.

Wir haben gesehen, daß die Entscheidung eines Teilgefechts an sich nichts ist, sondern daß alle Teilgefechte erst in der Entscheidung des Totalgefechts ihre Erledigung finden.

Aber auch diese Entscheidung des Totalgefechts hat nur eine relative Bedeutung in sehr vielen Abstufungen, je nachdem die Streitkraft, über welche der Sieg errungen ist, einen mehr oder weniger großen und bedeutenden Teil des Ganzen ausmachte. Das verlorene Treffen eines Korps kann durch den Sieg des Heeres gutgemacht werden, und selbst die verlorene Schlacht eines Heeres könnte durch die gewonnene eines bedeutenderen nicht bloß aufgewogen, sondern in ein glückliches Ereignis verwandelt werden (die beiden Tage von Kulm 1813). Niemand kann dies bezweifeln; aber es ist ebenso klar, daß das Gewicht eines jeden Sieges (der glückliche Erfolg eines jeden Totalgefechts) um so selbständiger wird, je bedeutender der besiegte Teil war, und daß also die Möglichkeit, das Verlorene durch ein späteres Ereignis wieder einzubringen, in dieser Richtung immer mehr abnimmt. Wie sich das näher bestimmt, werden wir an einem anderen Ort zu betrachten haben; hier ist es uns genug, auf das unzweifelhafte Dasein dieser Progression aufmerksam gemacht zu haben.

Fügen wir nun endlich diesen beiden Betrachtungen noch die dritte hinzu, nämlich, daß, wenn der nachhaltige Gebrauch der Streitkräfte in der Taktik die Hauptentscheidung immer gegen das Ende des ganzen Aktes hin verschiebt, das Gesetz des gleichzeitigen Gebrauchs in der Strategie umgekehrt die Hauptentscheidung (welches nicht die endliche zu sein braucht) fast immer am Anfang des großen Aktes stattfinden läßt, so werden wir in diesen drei Resultaten Gründe genug haben, um strategische Reserve immer entbehrlicher, immer unnützer und immer gefährlicher zu finden, je mehr ihre Bestimmung umfassend ist.

Der Punkt aber, wo die Idee der strategischen Reserve anfängt widersprechend zu werden, ist nicht schwer zu bestimmen; er liegt in der Hauptentscheidung. Die Verwendung aller Kräfte muß sich innerhalb der Hauptentscheidung befinden, und jede Reserve (fertiger Streitkräfte), welche erst nach dieser Entscheidung gebraucht werden sollte, ist widersinnig.

Wenn also die Taktik in ihren Reserven das Mittel hat, nicht bloß den unvorhergesehenen Anordnungen des Feindes zu begegnen, sondern auch den niemals vorherzusehenden Erfolg des Gefechts da, wo er unglücklich ist, wieder gutzumachen, so muß die Strategie, wenigstens was die große Entscheidung betrifft, auf dieses Mittel verzichten; sie kann die Nachteile, welche auf einem Punkt eintreten, in der Regel nur durch die Vorteile wieder gutmachen, die sie auf anderen erhält, und in wenigen Fällen, indem sie Kräfte von einem Punkte zum anderen überführt; niemals aber soll oder darf sie auf den Gedanken kommen, einem solchen Nachteil durch eine zurückgestellte Kraft im voraus begegnen zu wollen.

Wir haben die Idee einer strategischen Reserve, welche bei der Hauptentscheidung nicht mitwirken soll, für widersinnig erklärt, und das ist sie so unzweifelhaft, daß wir gar nicht versucht gewesen sein würden, sie einer solchen Analyse zu unterwerfen, wie in diesen beiden Kapiteln geschehen ist, wenn sie sich nicht, unter anderen Vorstellungen verkappt, etwas besser ausnähme und so häufig zum Vorschein käme. Der eine sieht in ihr den Preis strategischer Weisheit und Vorsicht, der andere verwirft sie und mit ihr die Idee jeder Reserve, folglich auch der taktischen. Dieser Ideenwirrwarr geht ins wirkliche Leben über, und will man ein glänzendes Beispiel davon sehen, so erinnere man sich, daß Preußen 1806 eine Reserve von 20000 Mann unter dem Prinzen Eugen von Württemberg in der Mark kantonieren ließ, welche dann die Saale zur rechten Zeit nicht mehr erreichen konnte, und daß andere 25000 Mann dieser Macht in Ost- und Südpreußen zurückblieben, welche man als eine Reserve erst später auf den Feldfuß setzen wollte.

Nach diesen Beispielen wird man uns wohl nicht schuld geben, daß wir mit Windmühlen gefochten haben.

Vierzehntes Kapitel: Ökonomie der Kräfte

Der Pfad der Überlegung läßt sich, wie wir gesagt haben, durch Grundsätze und Ansichten selten bis zu einer bloßen Linie einengen. Es bleibt immer ein gewisser Spielraum. So ist es aber in allen praktischen Künsten des Lebens. Für die Schönheitslinien gibt es keine Abszissen und Ordinaten, Kreis und Ellipse werden nicht mit ihren algebraischen Formeln zustandegebracht. Es muß sich also der Handelnde bald dem feineren Takt des Urteils überlassen, der, aus natürlichem Scharfsinn hervorgehend und durch Nachdenken gebildet, das Rechte fast bewußtlos trifft; bald muß er das Gesetz zu hervorstechenden Merkmalen vereinfachen, welche ihre Regel bilden, bald muß die eingeführte Methode der Stab werden, an welchem er sich hält.

Als ein solches vereinfachtes Merkmal, als einen Handgriff des Geistes sehen wir den Gesichtspunkt an, stets auf die Mitwirkung alter Kräfte zu wachen, oder mit anderen Worten, es immer und immer im Auge zu haben, daß kein Teil derselben müßig sei. Wer da Kräfte hat, wo der Feind sie nicht hinreichend beschäftigt, wer einen Teil seiner Kräfte marschieren, d. h. tot sein läßt, während die feindlichen schlagen, der führt mit seinen Kräften einen schlechten Haushalt. In diesem Sinne gibt es eine Verschwendung der Kräfte, die selbst schlimmer ist als ihre unzweckmäßige Verwendung. Wenn einmal gehandelt werden soll, so ist das erste Bedürfnis, daß alle Teile handeln, weil die unzweckmäßigste Tätigkeit doch einen Teil der feindlichen Kräfte beschäftigt und niederschlägt, während die ganz müßigen Kräfte für den Augenblick ganz neutralisiert sind. Unverkennbar hängt diese Ansicht mit den Grundsätzen der drei letzten Kapitel zusammen; es ist dieselbe Wahrheit, aber von einem etwas mehr umfassenden Standpunkt aus gesehen und in eine einzelne Vorstellung zusammengedrängt.

Fünfzehntes Kapitel: Geometrisches Element

Wie stark das geometrische Element oder die Form in der Aufstellung der Streitkräfte im Kriege zu einem vorherrschenden Prinzip werden kann, sehen wir an der Befestigungskunst, wo die Geometrie fast das Größte und Kleinste besorgt. Auch in der Taktik spielt sie eine große Rolle. Von der Taktik im engeren Sinne, der Bewegungslehre der Truppen, ist sie die Grundlage; in der Feldbefestigung aber sowie in der Lehre von den Stellungen und ihrem Angriff herrschen ihre Winkel und Linien wie Gesetzgeber, welche den Streit zu entscheiden haben. Manches ist hier zu falscher Anwendung gekommen, und anderes war nur Spielerei; aber dennoch hat gerade in der heutigen Taktik, wo man in jedem Gefecht seinen Gegner zu umfassen sucht, das geometrische Element von neuem eine große Wirksamkeit erhalten, zwar in sehr einfacher, aber immer wiederkehrender Anwendung. Nichtsdestoweniger kann in der Taktik, wo alles beweglicher, wo die moralischen Kräfte, die individuellen Züge und der Zufall einflußreicher sind als im Festungskriege, das geometrische Element nicht ebenso wie in ihm vorherrschen. Noch geringer aber ist sein Einfluß in der Strategie. Zwar sind auch hier die Formen in der Aufstellung der Streitkräfte, die Gestalt der Länder und Staaten von großem Einfluß. - Das geometrische Prinzip ist nicht entscheidend wie in der Befestigungskunst und lange nicht so wichtig wie in der Taktik. - Auf welche Weise jener Einfluß sich zeigt, wird sich erst nach und nach an denjenigen Orten sagen lassen, wo er eintritt und Rücksicht verdient. Hier wollen wir vielmehr auf den Unterschied aufmerksam machen, welcher dabei zwischen Taktik und Strategie besteht.

In der Taktik kommen Zeit und Raum schnell auf ihr absolut Kleinstes zurück. Wenn eine Truppe von der feindlichen in Seite und Rücken gefaßt wird, so kommt es bald auf den Punkt, wo ihr gar kein Rückzug mehr bleibt; eine solche Lage ist der absoluten Unmöglichkeit, weiter zu fechten, nahe, und sie muß sich also daraus befreien oder derselben vorbeugen. Dies gibt allen dahinzielenden Kombinationen von Hause aus eine große Wirksamkeit, und diese besteht größtenteils in den Besorgnissen, welche sie dem Gegner über die Folgen einflößen. Darum ist die geometrische Aufstellung der Streitkräfte ein so wesentlicher Faktor in dem Produkt.

Von allem dem hat die Strategie wegen der großen Räume und Zeiten nur einen schwachen Reflex. Man schießt nicht von einem Kriegstheater bis zum anderen, sondern es vergehen oft Wochen und Monate, ehe eine angelegte strategische Umgehung zur Wirklichkeit kommt. Ferner sind die Räume so groß, daß die Wahrscheinlichkeit, zuletzt den rechten Punkt zu treffen, auch bei den besten Maßregeln sehr geringe bleibt.

In der Strategie ist also die Wirkung solcher Kombinationen, d. h. des geometrischen Elementes, viel geringer, und darum ist die Wirkung dessen, was man einstweilen faktisch auf einem Punkt errungen hat, viel größer. Dieser Vorteil hat Zeit, seine volle Wirkung zu äußern, ehe er von entgegengesetzten Besorgnissen darin gestört oder gar vernichtet wird. Wir scheuen uns daher nicht, es als eine ausgemachte Wahrheit anzusehen, daß es in der Strategie mehr auf die Anzahl und den Umfang siegreicher Gefechte ankomme als auf die Form der großen Lineamente, in welcher sie zusammenhängen.

Gerade die umgekehrte Ansicht ist ein Lieblingsthema neuerer Theorie gewesen, weil man geglaubt hat, dadurch der Strategie eine größere Wichtigkeit zu geben. In der Strategie aber sah man wieder die höhere Funktion des Geistes, und so glaubte man den Krieg dadurch zu veredeln und, wie man vermöge einer neuen Substitution der Begriffe sagte, wissenschaftlicher zu machen. Wir halten es für einen Hauptnutzen einer vollständigen Theorie, solchen Verschrobenheiten ihr Ansehen zu benehmen, und da das geometrische Element die Hauptvorstellung ist, von welcher dieselbe auszugehen pflegt, so haben wir diesen Punkt ausdrücklich herausgehoben.

Sechzehntes Kapitel: Über den Stillstand im kriegerischen Akt

Wenn man den Krieg als einen Akt gegenseitiger Vernichtung ansieht, so muß man sich notwendigerweise beide Teile als im allgemeinen vorschreitend denken, zugleich aber muß man sich, was den jedesmaligen Augenblick betrifft, fast ebenso notwendigerweise den einen als abwartend und nur den anderen als vorschreitend denken, denn die Umstände werden niemals auf beiden Seiten völlig gleich sein oder sich völlig gleich bleiben. Es wird mit der Zeit ein Wechsel entstehen, woraus dann folgt, daß der gegenwärtige Augenblick dem einen günstiger ist als dem anderen. Setzt man nun bei beiden Feldherren eine vollkommene Kenntnis dieser Umstände voraus, so entspringt daraus für den einen ein Grund des Handelns, der dann zugleich für den anderen ein Grund des Abwartens wird. Es können also hiernach beide nicht zugleich das Interesse des Vorschreitens, aber auch nicht zugleich das Interesse des Abwartens haben. Dieses gegenseitige Ausschließen desselben Zweckes ist hier nicht aus dem Grunde der allgemeinen Polarität hergeleitet und also kein Widerspruch gegen die Behauptung des fünften Kapitels des zweiten Buches, sondern rührt daher, daß hier für beide Feldherren wirklich dieselbe Sache Bestimmungsgrund wird, nämlich die Wahrscheinlichkeit einer Verbesserung oder Verschlimmerung ihrer Lage durch die Zukunft.

Ließe man aber auch die Möglichkeit einer völligen Gleichheit der Umstände in dieser Beziehung zu, oder nimmt man darauf Rücksicht, daß die mangelhafte Kenntnis der gegenseitigen Lagen beiden Feldherren es so erscheinen lassen kann, so hebt doch die Verschiedenheit der politischen Zwecke diese Möglichkeit eines Stillstandes auf. Einer der beiden Teile muß, politisch genommen, notwendig der Angreifende sein, weil aus gegenseitiger Verteídigungsabsicht kein Krieg entstehen kann. Der Angreifende aber hat den positiven Zweck, der Verteidiger einen bloß negativen; - jenem gebührt also das positive Handeln, denn nur dadurch kann er den positiven Zweck erreichen. Es wird also in den Fällen, wo beide Teile sich in ganz gleichen Umständen befinden, der Angreifende durch seinen positiven Zweck zum Handeln aufgefordert.

So ist also nach dieser Vorstellungsart ein Stillstand im kriegerischen Akt strenge genommen ein Widerspruch mit der Natur der Sache, weil beide Heere wie zwei feindliche Elemente einander unausgesetzt vertilgen müssen, so wie Feuer und Wasser sich nie ins Gleichgewicht setzen, sondern solange auf einander einwirken, bis eines ganz verschwunden ist. Was würde man von zwei Ringern sagen, die sich stundenlang umfaßt hielten, ohne eine Bewegung zu machen? Der kriegerische Akt sollte also wie ein aufgezogenes Uhrwerk in stetiger Bewegung ablaufen. - Aber so wild die Natur des Krieges ist, so liegt sie doch an der Kette der menschlichen Schwächen, und der Widerspruch, der sich hier zeigt, daß der Mensch die Gefahr sucht und schafft, die er gleichwohl fürchtet, wird niemand befremden.

Richten wir den Blick auf die Kriegsgeschichte überhaupt, so finden wir so sehr das Gegenteil von einem unaufhaltsamen Fortschreiten zum Ziel, daß ganz offenbar Stillstehen und Nichtstun der Grundzustand der Heere mitten im Kriege ist und das Handeln die Ausnahme. Dies sollte uns an der Richtigkeit der gefaßten Vorstellung fast irremachen. Aber wenn die Kriegsgeschichte dies tut durch die Masse ihrer Begebenheiten, so führt die letzte Reihe derselben von selbst in unsere Ansicht zurück. Der Revolutionskrieg zeigt nur zu sehr ihre Realität und beweist nur zu sehr ihre Notwendigkeit. In ihm, und besonders in den Feldzügen Bonapartes, hat die Kriegführung den unbedingten Grad der Energie erreicht, den wir als das natürliche Gesetz des Elements betrachtet haben. Dieser Grad ist also möglich, und wenn er möglich ist, so ist er notwendig.

In der Tat, wie wollte man auch vor den Augen der Vernunft den Aufwand von Kräften rechtfertigen, welchen man im Kriege macht, wenn ein Handeln nicht der Zweck wäre? Der Bäcker heizt seinen Ofen nur, wenn er das Brot hineinschieben will; die Pferde spannt man nur an den Wagen, wenn man damit fahren will; warum denn die ungeheuren Anstrengungen eines Krieges machen, wenn man damit nichts hervorbringen will als ähnliche Anstrengungen beim Feinde?

So viel zur Rechtfertigung des allgemeinen Prinzips, jetzt von seinen Modifikationen, soweit sie in der Natur der Sache liegen und nicht von individuellen Fällen abhängen.

Es sind hier drei Ursachen zu bemerken, welche als innere Gegengewichte erscheinen und das allzu rasche oder unaufhaltsame Ablaufen des Uhrwerks verhindern.

Die erste, welche einen beständigen Hang zum Aufenthalt hervorbringt und dadurch ein retardierendes Prinzip wird, ist die natürliche Furchtsamkeit und Unentschlossenheit des menschlichen Geistes, eine Art Schwere in der moralischen Welt, die aber nicht durch anziehende, sondern durch zurückstoßende Kräfte hervorgebracht wird; nämlich durch die Scheu vor Gefahr und Verantwortlichkeit.

In dem Flammenelement des Krieges müssen die gewöhnlichen Naturen schwerer erscheinen, die Anstöße müssen also stärker und wiederholter sein, wenn die Bewegung eine dauernde werden soll. Selten reicht die bloße Vorstellung von dem Zweck der Bewaffnung hin, diese Schwere zu überwinden, und wenn nicht ein kriegerischer unternehmender Geist an der Spitze steht, der sich im Kriege, wie der Fisch im Wasser, in seinem rechten Element befindet, oder wenn nicht eine große Verantwortlichkeit von oben drückt, so wird das Stillstehen zur Tagesordnung und das Vorschreiten zu den Ausnahmen gehören.

Die zweite Ursache ist die Unvollkommenheit menschlicher Einsicht und Beurteilung, die im Kriege größer ist als irgendwo, weil man kaum die eigene Lage in jedem Augenblick genau kennt, die des Gegners aber, weil sie verschleiert ist, aus wenigem erraten muß. Dies bringt denn oft den Fall hervor, daß beide Teile auch da ein und denselben Gegenstand für ihren Vorteil ansehen, wo das Interesse des einen doch überwiegend ist. So kann denn jeder glauben, weise zu tun, wenn er einen anderen Moment abwartet, wie wir das im fünften Kapitel des zweiten Buches schon gesagt haben.

Die dritte Ursache, welche wie ein Sperrad in das Uhrwerk eingreift und von Zeit zu Zeit einen gänzlichen Stillstand hervorbringt, ist die größere Stärke der Verteidigung; A kann sich zu schwach fühlen, B anzugreifen, woraus aber nicht folgt, daß B stark genug zum Angriff gegen A sei. Der Zusatz von Kraft, welchen die Verteidigung gibt, geht durch den Angriff nicht bloß verloren, sondern wird dem Gegner gegeben, so wie, bildlich gesagt, die Different von a + b und a - b gleich 2b ist. Daher kann es kommen, daß beide Teile zum Angriff zugleich zu schwach nicht bloß sich fühlen, sondern wirklich sind.

So finden mitten in der Kriegskunst selbst besorgliche Klugheit, Furcht vor allzu großer Gefahr bequeme Standpunkt, um sich geltend zu machen und das elementarische Ungestüm des Krieges zu bändigen.

Indessen würden diese Ursachen schwerlich ohne Zwang den langen Stillstand erklären können, den die Unternehmungen in früheren, von keinem großen Interesse angeregten Kriegen litten, wo der Müßiggang neun Zehnteile der Zeit einnahmen, die man unter den Waffen zubrachte. Diese Erscheinung rührt vorzüglich von dem Einfluß her, den die Forderung des einen und der Zustand und die Stimmung des anderen auf die Führung des Krieges haben, wie im Kapitel vom Wesen und Zweck des Krieges bereits gesagt ist.

Diese Dinge können von einem so überwiegenden Einfluß werden, daß sie den Krieg zu einem Halbdinge machen. Oft sind die Kriege nicht viel mehr wie eine bewaffnete Neutralität oder eine drohende Stellung zur Unterstützung der Unterhandlungen oder ein mäßiger Versuch, sich in einen kleinen Vorteil zu setzen und dann die Sache abzuwarten, oder eine unangenehme Bundespflicht, die man so karg als möglich erfüllt.

In allen diesen Fällen, wo der Stoß der Interessen gering, das Prinzip der Feindschaft schwach ist, wo man dem Gegner nicht viel tun will und auch nicht viel von ihm zu befürchten hat, kurz, wo kein großes Interesse drängt und treibt, wollen die Kabinette nicht viel aufs Spiel setzen, und daher diese zahme Kriegführung, wo der feindselige Geist des wahren Krieges an die Kette gelegt wird.

Je mehr der Krieg auf diese Weise zu einem Halbdinge wird, um so mehr entbehrt die Theorie desselben der nötigen festen Punkte und Widerlagen für ihr Räsonnement, des Notwendigen wird immer weniger, des Zufälligen immer mehr.

Nichtsdestoweniger wird es auch in dieser Kriegführung eine Klugheit geben, ja vielleicht ist ihr Spiel hier mannigfaltiger und ausgedehnter als in der anderen. Das Hazardspiel mit Goldrollen scheint in ein Kommerzspiel mit Groschen verwandelt. Und in diesem Felde, wo die Kriegführung mit vielen kleinen Schnörkeln die Zeit ausfüllt, mit Vorpostengefechten, die zwischen Ernst und Scherz in der Mitte stehen, mit langen Dispositionen, die nichts hervorbringen, mit Stellungen und Märschen, die man hinterher nur darum gelehrt nennt, weil die winzig kleine Ursache derselben verloren gegangen ist und der Hausverstand sich nichts dabei denken kann, gerade in diesem Felde finden manche Theoretiker die wahre Kriegskunst zu Hause; in diesen Finten, Paraden, Halben- und Viertelstößen der alten Kriege finden sie das Ziel aller Theorie, das Vorherrschen des Geistes über die Materie, und die letzten Kriege kommen ihnen dagegen wie rohe Faustschläge vor, bei denen nichts zu lernen ist und die man als Rückschritte gegen die Barbarei betrachten muß. Diese Ansicht ist ebenso kleinlich als ihr Gegenstand. Wo große Kräfte, große Leidenschaften fehlen, ist es einer gewandten Klugheit freilich leichter, ihr Spiel zu zeigen; aber ist denn die Leitung großer Kräfte, das Steuern in Sturm und Wellenschlag nicht an sich eine höhere Tätigkeit des Geistes? Ist denn jene Rapierkunst nicht von der anderen Kriegführung umfaßt und getragen? Verhält sie sich nicht zu ihr, wie sich die Bewegungen auf einem Schiffe zu den Bewegungen des Schiffes verhalten? Sie kann ja nur bestehen unter der stillschweigenden Bedingung, daß der Gegner es nicht besser mache. Und wissen wir, wie lange er diese Bedingung erfüllen wird? Hat uns denn nicht Frankreichs Revolution mitten in der eingebildeten Sicherheit unserer alten Künste überfallen und von Châlons bis Moskau geschleudert? Und hat Friedrich der Große nicht schon auf ähnliche Weise die Österreicher in der Ruhe ihrer alten Kriegsgewohnheiten überrascht und ihre Monarchie erschüttert? - Wehe dem Kabinett, das mit einer halben Politik und gefesselten Kriegskunst auf einen Gegner trifft, der wie das rohe Element keine anderen Gesetze kennt als die seiner innewohnenden Kraft! Dann wird jeder Mangel an Tätigkeit und Anstrengung ein Gewicht in der Waagschale des Gegners; es ist dann nicht so leicht, die Fechterstellung in die eines Athleten zu verwandeln, und ein geringer Stoß reicht oft hin, das Ganze zu Boden zu werfen.

Aus allen angeführten Ursachen geht hervor, daß der kriegerische Akt eines Feldzuges nicht in kontinuierlicher Bewegung fortläuft, sondern ruckweise, und daß also zwischen den einzelnen blutigen Handlungen eine Zeit des Beobachtens eintritt, in welcher sich beide Teile in der Verteidigung befinden, sowie daß gewöhnlich ein höherer Zweck bei dem einen das Prinzip des Angriffs vorherrschen und ihn im allgemeinen in einer fortschreitenden Stellung bleiben läßt, wodurch denn sein Betragen in etwas modifiziert wird.

Siebzehntes Kapitel: Über den Charakter der heutigen Kriege

Die Rücksicht, welche man dem Charakter der heutigen Kriege schuldig ist, hat einen großen Einfluß auf alle Entwürfe, vorzüglich die strategischen.

Seit alle gewöhnlichen früheren Mittel durch Bonapartes Glück und Kühnheit über den Haufen geworfen und Staaten vom ersten Range fast mit einem Schlage vernichtet worden sind, seitdem die Spanier durch ihren anhaltenden Kampf gezeigt haben, was Nationalbewaffnungen und Insurrektionsmittel im großen vermögen trotz ihrer Schwäche und Porösität im einzelnen, seitdem Rußland durch seinen Feldzug von 1812 gelehrt hat, erstens, daß ein Reich von großen Dimensionen nicht zu erobern ist (welches man füglich vorher hätte wissen können), zweitens, daß die Wahrscheinlichkeit des Erfolges nicht in allen Fällen in dem Maße abnimmt, als man Schlachten, Hauptstädte, Provinzen verliert (welches früher allen Diplomaten ein unumstößlicher Grundsatz war, daher sie auch gleich mit einem interimistischen schlechten Frieden bei der Hand waren), sondern daß man oft mitten in seinem Lande am stärksten ist, wenn die Offensivkraft des Gegners sich schon erschöpft hat, und mit welcher ungeheuren Gewalt dann die Defensive zur Offensive überspringt, seitdem ferner Preußen 1813 gezeigt hat, daß plötzliche Anstrengungen die gewöhnliche Stärke einer Armee auf dem Wege der Miliz versechsfachen können, und daß diese Miliz ebensogut außerhalb des Landes als im Lande zu gebrauchen ist, - nachdem alle diese Fälle gezeigt haben, welch ein ungeheurer Faktor in dem Produkt der Staats-, Kriegs- und Streitkräfte das Herz und die Gesinnung der Nation sei, - nachdem die Regierungen alle diese Hilfsmittel kennengelernt haben, ist nicht zu erwarten, daß sie dieselben in künftigen Kriegen unbenutzt lassen werden, sei es, daß die Gefahr der eigenen Existenz ihnen drohe, oder ein heftiger Ehrgeiz sie treibe.

Daß Kriege, welche mit der ganzen Schwere der gegenseitigen Nationalkraft geführt werden, nach anderen Grundsätzen eingerichtet sein müssen als solche, wo alles nach dem Verhältnis der stehenden Heere zueinander berechnet wurde, ist leicht einzusehen. Die stehenden Heere glichen sonst den Flotten, die Landmacht der Seemacht in ihrem Verhältnis zum übrigen Staat, und daher hatte die Kriegskunst zu Lande etwas von der Seetaktik, was sie nun ganz verloren hat.

Achtzehntes Kapitel: Spannung und Ruhe

Das dynamische Gesetz des Krieges

Wir haben im sechzehnten Kapitel dieses Buches gesehen, wie viel größer in den meisten Feldzügen die Zeit des Stillstandes und der Ruhe als die des Handelns war. Wenn wir nun auch, wie im zehnten Kapitel gesagt ist, in den heutigen Kriegen einen ganz anderen Charakter wahrnehmen, so ist es doch gewiß, daß das eigentliche Handeln immer von mehr oder weniger langen Pausen unterbrochen sein wird, und dies führt uns auf das Bedürfnis, das Wesen beider Zustände näher zu betrachten.

Wenn ein Stillstand im kriegerischen Akt eintritt, d. h. wenn keiner von beiden Teilen etwas Positives will, so ist Ruhe und folglich Gleichgewicht; aber freilich Gleichgewicht in der weitesten Bedeutung, wo nicht bloß die physischen und moralischen Streitkräfte, sondern alle Verhältnisse und Interessen in die Rechnung kommen. Sowie einer der beiden Teile sich einen neuen positiven Zweck vorsetzt und für die Erreichung desselben tätig wird, wäre es auch bloß mit Vorbereitungen, und sobald der Gegner diesem widerstrebt, entsteht eine Spannung der Kräfte, diese dauert so lange, bis die Entscheidung erfolgt ist, d. h. bis entweder der eine seinen Zweck aufgegeben oder der andere ihn eingeräumt hat.

Auf diese Entscheidung, deren Gründe immer in den Wirkungen der Gefechtskombinationen liegen, welche von beiden Seiten entstehen, folgt dann eine Bewegung in der einen oder anderen Richtung.

Hat sich diese Bewegung erschöpft, entweder in den Schwierigkeiten, die dabei zu überwinden waren, wie an eigener Friktion, oder durch neu eingetretene Gegengewichte, so tritt entweder wieder Ruhe oder eine neue Spannung und Entscheidung und dann eine neue Bewegung in den meisten Fällen in der entgegengesetzten Richtung ein.

Diese spekulative Unterscheidung von Gleichgewicht, Spannung und Bewegung ist wesentlicher für das praktische Handeln, als es auf den ersten Augenblick scheinen möchte.

Im Zustand der Ruhe und des Gleichgewichts kann mancherlei Tätigkeit herrschen, nämlich die, welche bloß von Gelegenheitsursachen und nicht von dem Zweck einer großen Veränderung ausgeht. Eine solche Tätigkeit kann bedeutende Gefechte, ja selbst Hauptschlachten in sich schließen, aber sie ist darum doch von einer ganz anderen Natur und deshalb meistens von anderer Wirkung.

Wenn eine Spannung stattfindet, so wird die Entscheidung immer wirksamer sein, teils weil sich darin mehr Willenskraft und mehr Drang der Umstände kundtun wird, teils weil alles schon auf eine große Bewegung vorbereitet und zugerichtet ist. Die Entscheidung gleicht da der Wirkung einer wohl verschlossenen und verdämmten Mine, während eine an sich vielleicht ebenso große Begebenheit im Zustande der Ruhe einer in freier Luft verplatzten Pulvermasse mehr oder weniger ähnlich ist.

Der Zustand der Spannung muß übrigens, wie sich von selbst versteht, von verschiedenen Graden gedacht werden und kann sich folglich gegen den Zustand der Ruhe hin in so viel Abstufungen verlaufen, daß er in den letzten wenig von ihr verschieden sein wird.

Nun ist der wesentlichste Nutzen, den wir aus dieser Betrachtung ziehen, der Schluß, daß jede Maßregel, die man in dem Zustande der Spannung nimmt, wichtiger, erfolgreicher ist, als dieselbe Maßregel im Zustande des Gleichgewichts gewesen sein würde, und daß diese Wichtigkeit in den höchsten Graden der Spannung unendlich steigt.

Die Kanonade von Valmy hat mehr entschieden als die Schlacht bei Hochkirch.

In einem Landstrich, den uns der Feind überläßt, weil er ihn nicht verteidigen kann, dürfen wir uns ganz anders niederlassen, als wenn der Rückzug des Feindes bloß in der Absicht geschah, die Entscheidung unter besseren Umständen zu geben. Gegen einen im Vorschreiten begriffenen strategischen Angriff kann eine fehlerhafte Stellung, ein einziger falscher Marsch von entscheidenden Folgen sein, während im Zustande des Gleichgewichts diese Dinge sehr hervorstechend sein müßten, um des Gegners Tätigkeit überhaupt nur anzuregen.

Die meisten früheren Kriege bestanden, wie wir schon gesagt haben, dem größten Teil der Zeit nach in diesem Zustande des Gleichgewichts oder wenigstens so geringer, entfernt liegender schwachwirkender Spannungen, daß die Ereignisse, welche darin vorkommen, selten von großem Erfolge waren, oft Gelegenheitsstücke zum Geburtstag einer Monarchin (Hochkirch), oft eine bloße Genugtuung der Waffenehre (Kunersdorf), der Feldherren Eitelkeit (Freiberg).

Daß der Feldherr diese Zustände gehörig erkenne, daß er den Takt habe, sich im Geist derselben zu betragen, halten wir für ein großes Erfordernis, und wir haben an dem Feldzug von 1806 die Erfahrung gemacht, wie sehr dies zuweilen abgeht. In jener ungeheuren Spannung, wo alles zu einer Hauptentscheidung hindrängte, und diese mit allen ihren Folgen allein die ganze Seele des Feldherrn hätte in Anspruch nehmen sollen, kamen Maßregeln in Vorschlag und zum Teil auch zur Anwendung (die Rekognoszierung nach Franken), die höchstens im Zustande des Gleichgewichts ein leichtes, oszillierendes Spiel hätten abgeben können. Über allen diesen verwirrenden, die Tätigkeit absorbierenden Maßregeln und Betrachtungen gingen die notwendigen, die allein retten konnten, verloren.

Diese von uns gemachte spekulative Unterscheidung ist uns aber auch für den Fortbau unserer Theorie notwendig, weil alles, was wir über das Verhältnis von Angriff und Verteidigung und über die Vollziehung dieses doppelseitigen Aktes zu sagen haben, sich auf den Zustand der Krise bezieht, in welchem sich die Kräfte während der Spannung und Bewegung befinden; und daß wir alle Tätigkeit, welche im Zustande des Gleichgewichtes stattfinden kann, nur als ein Korollarium betrachten und behandeln werden, denn jene Krise ist der eigentliche Krieg, und dieses Gleichgewicht nur ein Reflex davon.

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